Der Gründungsbeirat, die übernommenen und neu hinzugekommenen ProfessorInnen und MitarbeiterInnen und auch die Studenten und Studentinnen des ersten Jahrganges der Fakultät Gestaltung, wir alle haben die große Chance, an der Gründung einer neuen Fakultät mitzuarbeiten. Dabei spüren wir die historische Bedeutung des Ortes, an welchem wir uns befinden, und das Gewicht der großen Vergangenheit, die hinter dieser neuen Gründung steht. Und da stellen wir uns wohl alle die Frage:
Was kann man denn vom Bauhaus lernen? – Die Antwort, die wir uns nicht leichtfertig gegeben, sondern erarbeitet haben, lautet: Vom Bauhaus kann man lernen, daß man in der jeweils gegebenen Situation, also heute, innovativ sein muß! Vom Bauhaus lernen heißt also gerade nicht, das Bauhaus wiederholen. Lernen vom Bauhaus heißt vielmehr, darüber nachdenken, was heute not tut, genau so, wie die Leute vom Bauhaus darüber nachgedacht hatten, was denn vor siebzig Jahren an Neuerungen fällig war. Von dem, was heute not tut, möchte ich hier sprechen, aber zuerst spreche ich noch von unserem Lehrmeister, dem Bauhaus.
Das Bauhaus von 1919 stand in einer Auseinandersetzung einerseits mit der Kunstakademie und andererseits mit der Kunstgewerbeschule, wie sie aus dem späten 19. Jahrhundert überkommen waren. Auch die Entwerfer von Gegenständen des Kunstgewerbes waren Künstler, die an den genialen Allüren der Kunstakademie geschult waren. Zur Korrektur schuf das Bauhaus die neue Figur des Kunststudenten als eines Lehrlings, so, wie es den Absolventen Geselle nannte und die Professoren Meister. Schon in diesen Worten drückt sich aus, daß das Bauhaus Entwerfer ausbilden wollte, welchen einerseits das handwerklich-technische Know-How, wie man heute sagen würde, perfekt von der Hand ging, und die andererseits über eine sachbezogene Formensprache verfügten. Diesen Absichten entsprachen zwei pädagogische Prinzipien, die das alte Bauhaus einführte, und die damals sinnvoll waren zur Überwindung des heruntergekommenen Akademismus. Die beiden Prinzipien richten sich an den neu eintretenden Lehrling und sagen diesem:
Schlage dir sofort aus dem Kopf, was du mitgebracht hast; deine Anschauungen, dein Können, den Strich, den dir dein Zeichenlehrer in der Schule beigebracht hat; denn das alles ist falsch und verkitscht!
Und das zweite Prinzip: Tue jeweils nur, was du schon gelernt hast, andernfalls machst du Fehler und es entsteht Pfusch!
Wir wissen alle, daß das Bauhaus ein Ort schärfster Auseinandersetzungen und Diskussionen war, und daß deshalb mehrere Interpretationen dessen möglich sind, was »das bauhaus« gewollt hat. Im großen Ganzen gibt es zwei Bauhauslegenden: Das Bauhaus als der Ort der Entstehung einer neuen Kunst, mit Kandinsky, Klee, Feininger und den anderen, und das Bauhaus als der Ort der zielbewußten Schaffung einer Typisierung der Geräte im Hinblick auf die industrielle Herstellung. Bleiben wir einmal beim Funktionalismus und der Tendenz zur industriellen Produktion: Der Beginn lag schon vor dem Ersten Weltkrieg; ein erster Höhepunkt war der berühmte Prototypenstreit von 1914 zwischen Van de Velde und Muthesius. Wir wissen, daß die Mitglieder des Werkbundes damals Van de Velde als dem Vertreter der überkommenen Entwerfer-Künstlers zujubelten. Später stellte sich das Bauhaus sozusagen auf die Seite Muthesius’, auch wenn am Bauhaus noch zahlreiche rührend verklemmte Wandteppiche, kubistische Teekannen und im de-stijl-Stil gehäkelte Sofakissen entstanden. Das Ziel sicher eines Teiles der Bauhäusler war das industriell produzierte Gerät und als Wichtigstes: das Haus.
Die Methode, mit der man am Bauhaus zur Industrialisierung kommen wollte, war die des traditionellen polytechnischen Unterrichts, wie er zur Zeit Napoleons in Frankreich konzipiert worden war. Das Wesen der polytechnischen Methode ist die Trennung von Ziel und Mittel. Der Auftraggeber benennt das Ziel und verantwortet es auch. Der Entwerfer ersinnt das Mittel, mit welchem dieses Ziel erreicht werden soll, und verantwortet die Herstellung und die Funktion. Napoleon sagt: Wie bringt man die Truppen über den Rhein? Und das corps des ponts et chaussées antwortet: Wir bauen eine Brücke! Die Polytechniker verantworten die Standfestigkeit der Brücke, Napoleon den Krieg.
Heimliches Vorbild aller Entwerfer und Hersteller in der neueren Zeit ist Henry Ford. Und erstaunlicherweise ist Henry Ford Vorbild nach links und nach rechts: Die Fordsche Produktionsstraße schwebt sowohl dem privatwirtschaftlichen Unternehmer als oberste erreichbare Lösung vor, mit welcher er die Konkurrenten unterbieten und den gesamten Markt für sich erobern kann. Dieses Fließband dient auch als Modell einer vergesellschafteten Produktion im sozialistischen Staat. Und so war das am Fließband zu produzierende Massenprodukt, das vom technisch ausgebildeten Designer entworfen wird und das erschwinglich bleibt auch für die durch die Krise ausgepowerten Massen, sicherlich auch das Ziel mindestens des späten Bauhauses.
Wenn ich nun darüber spreche, was heute not tut, so ignoriere ich diese Vergangenheit nicht, sondern möchte ihr Gerechtigkeit und höchste Anerkennung widerfahren lassen. Nur möchte ich sie nicht einfallslos weitergeführt wissen, sondern aktuell im Sinne des eingangs gesagten Satzes: Vom Bauhaus können wir lernen, daß man in seiner Zeit innovativ sein muß.
Wir befinden uns heute in einer Krise, die über die bloße temporäre wirtschaftliche Rezession insofern hinausgeht, als sie nur durch strukturelle Änderungen zu beseitigen ist. Nach dieser Krise wird es nicht mehr so sein wie es vorher war. Ich nenne hier, als Beispiel, zwei der irreversiblen Entwicklungen, die wir beachten müssen:
Eines Tages funktionierte es nicht mehr, daß die Japaner in den USA Autos verkaufen wollen, die USA in Japan, alle beide in Deutschland, und daß Deutschland in Japan und USA Autos verkaufen will. Daß dieses sein Ende fand, nennen wir »krise«. Der Weg aus dieser Krise besteht nun einmal nicht darin, daß wieder alle allen Autos verkaufen.
Die dahin, nämlich auf die Wiederaufnahme dieses Handels mit Serienprodukten gerichtete Politik findet – für uns – schon darin ihr Ende, daß die so produzierende Industrie von den Hochlohnländern in die Niedriglohnländer abwandern wird oder schon abgewandert ist.
Darüber zu sprechen, was not tut, heißt also die Frage stellen: Was werden wir tun, die wir in Hochlohnländern leben? Die Wirtschaftspolitik der entwickelten Länder litt lange, und leidet noch, an einer falschen Selbst-Interpretation dieser industriellen Gesellschaften: an dem Glauben an die totale fordistische Rationalisierung der Industrie und damit an die bevorstehende Tertiarisierung der übrigen Arbeit. Dieser Glaube ist verbunden mit der Lehre von der Produktivität. Diese besagt – in solchen Zahlen dachten Colin Clark und Jean Fourastié in den sechziger Jahren, und sie beeinflussen die Planung bis auf den heutigen Tag: Die Produktivität der Industrie wird sich so steigern, daß es in Zukunft nur noch 10% industriell tätige ArbeitnehmerInnen geben wird. Und was machen dann die anderen? – Die Antwort war: sie gehen in jene Wirtschaftszweige, die nicht rationalisierbar sind, nämlich in die dienstleistenden Berufe, und dort werden künftig 80% von uns tätig sein. Diese Lehre, an der etwas Richtiges ist und viel Falsches, ging ein in die Planungen der Staaten und Städte, auch in die physische Planung, man sprach von der Tertiarisierung der Stadt und der Regionen.
Ich nenne nun einige Fehler dieser Theorie:
Und Drittens:
Unsere Frage also muß lauten: Was werden wir tun in unseren Hochlohngesellschaften, wenn:
Diese drei Punkte sind es, die unsere Krise zu einer strukturellen Krise machen. Keines unserer beiden politischen Modelle, weder das liberalkonservative Modell noch das sozialdemokratische, sind komplex genug, um in der gegenwärtigen Lage Linderung und Ansporn zu bringen. Zu fest sitzt bei beiden der Glaube, es gehe nur darum, die Fließbänder wieder in Bewegung zu setzen.
Demgegenüber muß versucht werden, in der eigenen Zeit einen neuen, innovativen Weg zu finden. Und wenn ich mich umschaue, so haben viele junge Leute schon einen solchen Weg gefunden. – Zur Illustration ein Beispiel: Ich wohne in einem sogenannt bürgerlichen Quartier, von dem man annehmen würde, hier lebe nun eben diese tertiäre Gesellschaft der Buchhalter und Versicherungsleute. Im Sockelgeschoß meines Nachbarhauses haben sich zwei junge Kerle eingemietet, die sich darauf spezialisiert haben, elektronische Musikinstrumente umzubauen. Von Zeit zu Zeit bringen sie einen Kasten mit komplizierten Kabeln und Tasten, tragen ihn ins Haus und haben dort wohl ihren Spaß daran – und ihr Einkommen. Im Hinterhof des Hauses nebenan arbeitet ein Reproduktionsfotograf. Er hat sich spezielle Geräte gekauft und ist nun derjenige Fachmann, der für die Reproduktion von Kunstwerken weit herum die besten Filmvorlagen liefert: Muß ich weitererzählen? Irgendwo hat dann eine junge Frau ein Zimmer gemietet: Sie entwirft Stoffmuster für eine kleine Agentur, die diese in den USA an Stoffdruckereien verkauft. Und sicherlich ist irgendwo in einer Garage auch der, der für eine Düse eines Roboters einer Produktionsstraße den elektronischen Automatismus bastelt, den die Fabrik nicht selber entwickeln will. Was ich zeigen will, ist, daß hier eine Generation heranwächst, die weder im fordistischen Produktionssystem steht noch in der Tertiarisierung, sondern die, paradoxerweise vergleichbar mit dem alten Handwerk, innovativ sowohl handwerkliche wie künstlerische wie technische Talente produktiv einsetzt.
Und für diese Generation, die Generation des Aufschwungs nach der gegenwärtigen Strukturkrise, ist auch unsere neue Fakultät Gestaltung da!
Ich nenne also drei Aspekte einer künftigen Produktionsgesellschaft nach der Krise:
Ich richte mich nun an die StudentInnen, die hier anwesend sind, und sage ihnen im Namen der Gründungsbeirates: Dieses waren unsere Gedanken zu einer Ausbildung, die der heutigen Zeit und den Anforderungen der Zukunft entspricht. Daß auf dieser Grundlage eine neue Fakultät errichtet werden konnte, ist ein einzigartiger Glücksfall. Der Gründungsbeirat wird in den nächsten Monaten seine Arbeit beenden; die Gründung legen wir in Eure Hände, es ist an Euch, sie zu bewahren und fortzusetzen, und Euch zu wehren, wenn die Lehrenden zur üblichen repressiven Routine übergehen sollten, die für sie ja so viel bequemer ist als der problemorientierte Unterricht, den wir heute brauchen.
Weimar, 19. November 1993
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