Dienstag, 10 Uhr. 35 Studierende aus dem zweiten Semester im Bachelor Architektur und sieben Lehrende von den Professuren Bauformenlehre und Darstellungsmethodik an der Fakultät Architektur und Urbanistik treffen sich zum wöchentlichen Picknick im »Grünen Salon«. Nicht wie ursprünglich angedacht zum Picknick im Grünen, sondern im digitalen Moodle-Raum. Bauliches Ziel des Projektes: kleine Architekturen zu schaffen, die als Kommunikationsort im Ilmpark für Gäste und Interessierte zugänglich sind. Ob am Ende eine reale oder virtuelle Interpretation des Salongedankens entsteht, ist offen.
»Der Grüne Salon ist für uns ein Denkraum, der sich ausgehend von der historischen Salonkultur aus persönlichen Interpretationen der Teilnehmenden speist. Wir wollen uns einmischen in die Grenze zwischen Universitätscampus und Park an der Ilm«, sagt Prof. Rudolf, Professur Bauformenlehre. »Es geht darum, dass wir den Park bewusster wahrnehmen, Zusammenhänge ergründen und darstellen. Für uns bietet dieses Thema die Chance, das Bewusstsein für die Relevanz des Entwerfens zu schärfen«, so Prof. Rudolf weiter. »Wir fragen: Welche Bedeutung hat die Salonkultur im gesellschaftlichen Diskurs heute? Wie ist in Zeiten der Coronavirus-Pandemie das Verhältnis von individuellen Freiräumen und gemeinschaftlichen Schutzräumen gegenüber individuellem Schutzraum und gemeinschaftlichem Freiraum? Diesen scheinbaren Widerspruch wollen wir im Begriff und am Bild des Salons spiegeln.« Das Projekt kooperiert eng mit der Klassik Stiftung Weimar, die für den Ilmpark Verantwortung trägt.
Die Ausgangssituation der Studierenden ist zum Semesterbeginn sehr unterschiedlich. Die meisten sind Anfang Mai zwar in Weimar, können aufgrund der Kontaktbeschränkungen jedoch ihre Wohnungen kaum verlassen. Vier Entwurfsteilnehmende schalten sich zunächst aus der Ferne zu, teils sogar aus dem Ausland. Wer auch im Verlauf des Semesters nicht anreisen kann, wird mit einem Dialogpartner oder einer Dialogpartnerin in Weimar verbunden. Einige Studierende haben es besonders gut getroffen: Louisa Deetjen und Friederike Müller beispielsweise wohnen zusammen und können sich von Beginn an nicht nur über die digitale Plattform, sondern auch am Küchentisch, auf dem Balkon und darüber hinaus austauschen und vernetzen: »Auch wenn wir als WG-Zweierteam in diesem Entwurf einen Heimvorteil haben und zu den Picknicks zusammen frühstücken können, waren die letzten Wochen für uns und einige unserer Kommilitoninnen und Kommilitonen doch sehr kräftezehrend. Wir fühlen uns etwas verloren, weil neben dem Entwurf auch durch Vorlesungen und Übungen so viel zu tun ist wie in einem regulären Semester, ohne dass ein direkter Austausch mit den anderen zustande kommt. Hoffentlich gibt es für die Studierenden bald Alternativen zum Home-Office«, so die beiden.
Stegreifkonzept und Picknick-Szenen
Jeden Dienstag bekommen die Studierenden neue Arbeitsaufträge, die sie innerhalb weniger Tage bearbeiten. Sozusagen über Nacht stellen sie sich der jeweiligen Themenstellung in komprimierter Form, bringen ihre Interpretationen auf den Punkt. Der Begriff »Stegreifentwurf« bildet in der Sprache der Architektinnen und Architekten diese Art der kurzen, spontanen, intensiven Entwurfsarbeit ab. Zwischen den Stegreifen dient das »Picknick« als Kommunikationsform und Bindeglied. In den Picknicks stellen die Studierenden ihre Ergebnisse gegenseitig vor, besprechen und diskutieren diese. Die Schritte aller Stegreife dokumentieren die Studierenden in einem biografischen Logbuch, das wie in einem Künstlerbuch die Erfahrungen und Erkenntnisse als Teil des Arbeits- und Entwurfsprozesses aus der eigenen Perspektive festhält. Darin werden Gedanken und Skizzen zu Papier gebracht, aber auch technische Details bis hin zu Kostenkalkulationen notiert.
Stegreife 1 und 2: Individuelle Wahrnehmungsübungen
Am Anfang standen sinnliche Wahrnehmungsübungen, in denen die Studierenden dem Ilmpark begegneten, Orte beobachten und ihre Potenziale aufspüren sollten. Nach einer fotografischen Annäherung im ersten Stegreif ging es im zweiten Stegreif um Naturbeobachtungen. Hierfür entwickelten alle Teilnehmenden einen eigenen Kriterienkatalog, z.B. Landschaftsstrukturen, Materialvielfalt wie Baumbestand oder Steine, akustische Erlebnisse wie Wasser, Tiergeräusche, Straßenlärm etc. Zur Schärfung der Sinne spazierten die Studierenden dann schrittweise und in mehreren Runden durch den Park und sammelten ihre Empfindungen. In einem Spaziergang sorgte ein akustischer Störsender über Kopfhörer dafür, dass Wahrnehmungen verändert, Erfahrungen ausgeblendet bzw. verstärkt wurden. »Entstanden sind sehr persönliche illustrative Sinneskarten. Anhand ganz unterschiedlicher Techniken, von Handskizzen und fotografischen Karten über Excel-Grafiken bis hin zu Collagen, haben alle den Blick auf subjektive Eindrücke gelenkt und eine individuelle Sprache gefunden«, lobt der Wissenschaftliche Mitarbeiter Roy Müller, der diesen Stegreif betreute, die Ergebnisse.
Stegreife 3 und 4: Raumstudien und Nutzungsszenarien
Nachdem die Bearbeitung der ersten beiden Stegreife individuell erfolgte, konnte die Arbeit Anfang Juni in Zweiergruppen fortgeführt werden, jedoch weiterhin unter Einhaltung des Abstandsgebots. Im dritten Stegreif lag der Fokus auf dem Gespür für den Ort und auf der Raumwirkung. Die Studierenden sollten den Raum durch architektonische Interventionen und Standortanalysen mit Modellen im Maßstab 1:25 aufwerten. Hierbei waren Blickachsen, Beziehungen zum Umfeld und Reaktionen von Passanten zu erfassen und zu berücksichtigen. So haben die Teams experimentelle Raumerfahrungen an 13 unterschiedlichen, selbst gewählten, Standorten im Ilmpark durchgeführt, z.B. an der Sternbrücke, am Tempelherrenhaus, am Stern oder am Ilmufer. Die jeweilige Vorzugsvariante installierten sie daraufhin als abstrakte Raumvolumen im Maßstab 1:1 am Standort und untersuchten diese– nun in real – auf die verändernde Raumwirkung. Die daraus abgeleiteten Erkenntnisse bildeten die Grundlage für den tatsächlichen Entwurf im vierten Stegreif. Darin haben die Teams »ihren« Ort mit Elementen und Materialien räumlich strukturiert sowie Nutzungsideen erarbeitet. Dr. Sabine Zierold, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, betreute diesen Stegreif und stellt fest: »Die Studierenden gestalteten und inszenierten auf sehr eindrucksvolle Weise ihre sinnlichen Wahrnehmungsräume, die sich für Kommunikation und Information öffnen oder Rückzugsmöglichkeiten für Natur- und Landschaftsbeobachtung bieten. Dabei sind sehr vielfältige Darstellungstechniken zum Einsatz gekommen, die die verschiedenen Herangehensweisen an die Orte widerspiegeln.« Die Titelvielfalt der Arbeiten aus dem dritten und vierten Stegreif verdeutlicht die Unterschiedlichkeit der Ansätze: Schutzinsel, Ilminsel, Grünes Café, Erinnerungsecke, Talblick, Seebrücke, Duxtor, Frequenzen, Exploration, Blickfang, Weggabelung….
Stegreife 5 und 6: Ökologische Dimension und mögliche bauliche Umsetzung
Bisher wurde philosophiert, beobachtet und analysiert. Nun geht es in die konkrete Planung und Realisierung. Noch zwei Stegreife stehen bevor. Der fünfte Stegreif wird erproben, wie digitale Planungsabläufe bei einer nachhaltigen Verwendung verfügbarer Ressourcen unter den aktuellen Krisenbedingungen funktionieren. Und schließlich soll im sechsten Stegreif das Szenario für eine bauliche Umsetzung gefunden und diese auch realisiert werden. Entsteht ein Salon-Puzzle, das in seinen Einzelbauteilen am heimischen Herd vorbereitet und anschließend zusammengefügt wird? Oder ein Salon-Studio, in dem das eigene WG-Zimmer zum Baufeld und zur Studio-Kulisse wird, in der die Baupläne mit allen vorhandenen Materialien und Geräten 1:1 umgesetzt werden und aus der in den gemeinsamen virtuellen Raum gesendet wird? Oder gar ein Staffelbau mit einer Kette von Arbeitsschritten, die jeweils in den nächsten münden, indem nach der Übergabe von Material, Bauteilen und Werkzeugen das Nachfolger- auf das Vorgängerteam reagiert und so seinen Teil zum wachsenden Grünen Salon beiträgt?
Im »finalen Picknick« zur summaery am 30. Juli 2020 wird der Picknickkorb geöffnet. Die sicherlich anregenden Entwurfsrezepturen werden dann mit Interessierten geteilt, indem die Ergebnisse dieses außergewöhnlichen Semesterprojekts sichtbar gemacht werden. Vielleicht auch in einem gemeinsamen Parkspaziergang…
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