Mimetische Praktiken und Techniken sind in der Architektur und den Architekturdiskursen allgegenwärtig. Bereits Vitruv, der Verfasser der ältesten überlieferten architekturtheoretischen Abhandlung, erklärte die Entstehung der Architektur weitgehend mimetisch, indem er in der Anwendung numerischer Proportionen in der Baukunst die Spiegelung der schöpferischen Natur sah, die drei Säulenordnungen mit dem Wesen verschiedener Götter zusammenbrachte und in der Monumentalarchitektur die Nachahmung vormonumentaler Bauten erkannte. In der Folge bot der Vitruvianismus des 15. bis 18. Jahrhunderts mimetischen Konzepten breite Entfaltungsmöglichkeiten: von den Herleitungen der „Urhütte“ über die anthropomorphen Architekturdeutungen bis zu vulgarisierenden Ableitungen der Monumental- von der Holzarchitektur durch die „Xylomanen“ (Leo v. Klenze), wobei die Nachahmung der Natur in der Regel über die Aneignung antiker Vorbilder erfolgte. Noch heute gehört es zur Topik der Selbsterklärung von Architekten, ihren Entwurfsprozess mit der Aufnahme und Übertragung von etwas Vorgefundenem zu erklären. Dieses Vorgefundene liegt – jedenfalls in der Tradition der Moderne – vorzugsweise in der Natur und höchstens zur Erklärung fremder Werke im Gebauten, „weil sie immer noch den Historismusverdacht im Nacken spüren“ (Werner Oechslin 2012). Unreflektiert folgt man damit einer bis auf Aristoteles zurückführbaren Zweiteilung der Mimesis, wobei der Architekt in Analogie zum Schöpfer für sich jeweils nicht die imitierende, sondern die „gute“ hervorbringende, quasi demiurgische Mimesis in Anspruch nimmt. Dies, obwohl die Rezeption von Gesehenem ebenso zum Alltag des architektonischen Entwurfs gehört wie die Herleitung von Formen zum täglichen Handwerkszeug architekturgeschichtlichen Forschens.
Praktiken des Zitierens, Kopierens, der Montage, des Remake und der Mimikry sind somit gängige Verfahren in der Architektur und in der Beschäftigung mit ihr Teil des baumonografischen Alltags. In der zeitgenössischen Baukunst ist das Paradigma der Originalität – der vermeintliche Bruch mit der Tradition – dennoch bis heute beherrschend und verstellt oftmals den Blick auf mimetische Phänomene. Dies, obwohl im Zeichen von Re-Semantisierung und Identitätskonstruktionen Phänomene wie Rekonstruktionen, Kopien oder Neubauten in historisierenden Formen allgegenwärtig sind und im aktuellem Diskurs Fragen von Reuse und Recycling als Entwurfsprinzipien den Status der Biennale-Würdigkeit (Venedig 2012) erlangt haben. Darüber hinaus blieb bisher weitestgehend unberücksichtigt, dass sich seit dem Einfluss der Naturgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert das Verständnis architektonischer imitatio naturae vom Motivischen zum Evolutionären und Prozessualen gewandelt hat (Goethe, Quatremère, Semper, Loos u.a.). Für die neuere westliche Architektur ist es vor diesem Hintergrund symptomatisch, dass das Spektrum der klassischen Analogiebildungen um Begriffe wie Natural History, Morphing, Folding und Autopoiesis erheblich erweitert wurde. Die damit skizzierten Konzepte architektonischer Mimesis ließen sich wie folgt in einem größeren ideengeschichtlichen Horizont zusammenfassen:
1. Anthropometrie und Vitruvianismus
2. Kritik der Mimesis/Krise der Repräsentation
3. Architekturgeschichte als Naturgeschichte
4. Die Nachahmung der Technik
5. Techniken des Nachahmens
Das Projekt widmet sich auf der Grundlage dieser sich historisch überlagernden Paradigmen der Untersuchung von Nachahmungsstrategien in der Architekturtheorie und Architektur seit der Postmoderne. Das Spektrum reicht von Rekonstruktionen oder Konstruktionen historischer Fassaden bis Strategien der Analogiebildung in den Medien der Architektur. Die damit benannten Facetten gliedern sich in die vier folgenden Teilaspekte des Projektes:
a) Es versteht Rekonstruktionen, Kopien oder Neubauten in historisierenden Formen als kreativen Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des eigenen Mediums, der Architektur;
b) es untersucht Aspekte der Wunscherzeugung und der Magie von Rekonstruktionen, Kopien etc.;
c) es untersucht die (zuweilen auch an magische Praktiken erinnernde) Übernahme materieller Reste (Spolien) in Neubauten als Prozess der Bedeutungsstiftung;
d) es untersucht das Wechselverhältnis zwischen Medium und Mimesis im Zusammenhang mit entwurfstheoretischen Analogiebildungen und Begründungsstrategien in der Architektur.
Es geht darum, die mimetischen Praktiken auf die Spezifika der Architektur als Medium und hinsichtlich ihrer Medialität zu befragen, die eine eigene körperlich erfahrbare und nicht ausweichliche Wirklichkeit schafft, auf die Materialität, Körperlichkeit und öffentliche, institutionelle Präsenz der Architektur sowie auf architektur- und entwurfstheoretische Reflexion.
Bearbeiter: Prof. Dr. Hans-Rudolf Meier, Prof. Dr. Carsten Ruhl (Goethe-Universität Frankfurt/Main)