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Die Exkursionsgruppe im Quartier Spine Bianche in Matera. Foto: Kirsten Angermann
Erstellt: 28. April 2023

Bericht über die Exkursion nach Apulien

Die Studierende Elena Mertens fasst in ihrem Bericht die Exkursion der Professur Denkmalpflege und Baugeschichte nach Apulien zusammen. Die Exkursion hatte vom 27. März bis zum 1. April unter dem Titel "Ancora una volta il Sud - Architektur vom Mittelalter bis in die Gegenwart in Apulien" stattgefunden.

Gemeinsam reisten wir in der letzten Märzwoche 2023 nach Apulien, eine Region in Süditalien umschlungen vom adriatischen und ionischen Meer, gefüllt mit einer turbulenten, reichen Vergangenheit und Geschichte. Apulien war schon in der römischen und griechischen Antike Zusammenkunftsort vieler verschiedener Einflüsse und sich wandelnden gesellschaftlichen und kulturellen (Macht)Strukturen. Eine Akkumulation der in der Region auffindbaren antiken Elemente haben wir beispielsweise in Tarent auf unserem Weg zum Palazzo del Governo in Form von einer Anastylose vorfinden können. Durch die optimale Lage, agierte die besondere Region schon in der griechischen Antike als verlängerter, kolonisierter Arm der Magna Grecia; ideal platziert, um als Hafenstadt zur Handelsstadt und schließlich als Verbindungsglied zwischen Land- und Wasserwegen zu operieren. Die römische Handelsstraße Via Appia bildete eine direkte Verbindung zu Rom. Apulien wurde nicht zufällig als „Brücke zwischen Orient und Okzident“ bezeichnet.

Die Verbindung zu Rom verschaffte sich Apulien durch das Erscheinen der Normannen zum Beginn des 11. Jahrhunderts. Die sich ansiedelnden Gruppen waren anfangs landlose Ritter aus dem Norden Frankreichs und England. Innerhalb kürzester Zeit wuchs die Präsenz der Normannen, die einen neuen architektonischen Anstoß initiierten. Apulien erlebte somit eine Wiedergeburt der Städte als Sitze traditioneller romtreuer Bistümer und Benediktinerklöster. In dieser Phase entstanden die besichtigten Bauten, wie San Nicola und die Kathedrale San Sabino in Bari und die lateinische Kathedrale San Cataldo in Tarent. In der Kathedrale San Cataldo konnten wir besonders gut die verschiedenen Einflüsse am bestehenden Bau ablesen: Von den ältesten Elementen, den Spolien, stammend aus der griechischen und römischen Antike, der byzantinische Einfluss, der die ursprüngliche Kirchenform eines symmetrischen Kreuzes mit zentraler Pendentifkuppel und gleichmäßigem Tonnengewölbe bildete. Und später das von den Normannen addierte Langhaus im romanischen Stil, welches untypischer Weise am östlich ausgerichteten Tonnengewölbe erweitert wurde. Zudem konnten wir die hinzugefügten Elemente aus der Epoche des Barock anhand der Kassettendecke, des Westvorbaus und dem Ausbau der Apsiden im Westen wiederfinden. Die Reichhaltigkeit der malerischen, und üppig verzierten Elemente, die in den Apsiden durch den verwendeten Marmor, sowie der figürlich, verspielten Fassade sind ebenfalls Merkmale des Barock. Die barocke Fassade weist außerdem klassizistische Elemente auf, wie die Pilaster in Kolossalordnung mit den unterschiedlichen klassischen Kapitellformulierungen, den Triglyphen und dem antik formulierten Giebel. Die Freude am skulpturalen, architektonischen und künstlerischen Handwerk ist typisch für Süditalien, was wir an den reichen Portalen der romanischen Sakralbauten und den reich verzierten barocken Apsiden der Kathedrale in Tarent ablesen konnten.   

Eine Frage, die uns im Zusammenhang der Denkmalpflege beschäftigte, war, inwiefern der Schutz und die Pflege des historischen Baus richtig ausgeführt wurde. Eine absolute Antwort gibt es selten. Wichtig zu identifizieren ist der Ausgangspunkt der Freilegung. In dem Fall der Kathedrale in Tarent war die Motivation, in erster Linie, keine Restauratorische, sondern ein weiteres, zerstörtes Resultat des zweiten Weltkrieges. Jede Entscheidung ist didaktisch; im Idealfall geht sie in Form vom fragenden Abwägen vonstatten: welche verschiedenen Zeitschichten sollen gezeigt werden, welche Schicht, und somit welche Epoche ist lohnenswert zu zeigen, vor allem, an welchen Stellen.

Am Castel del Monte, das aus der gewellt hügeligen Landschaft durch seine bemerkenswerte oktogonale Form und dem verwendeten hellen Kalkstein heraussticht, lassen sich die verschiedenen Einflüsse, die an dieser Stelle wieder vereint wurden, ablesen. Die Wehrhaftigkeit des mittelalterlichen Baus zeigt die repräsentative Wirkung, die das Gebäude ausstrahlen soll und gleichzeitig den reichen Austausch mit verschiedenen Kulturkreisen am Bau in Form von architektonischen Zitaten. Der Übergang in die Hochphase der Staufer, wurde besonders durch Friedrich II. geprägt, der Apulien zum Kernland seiner Regentschaft machte. Durch seine machtvolle Stellung als König von Sizilien und später als römisch-deutscher Kaiser, dienten Bauten, wie das Castell del Monte, als Zeichen der repräsentativen Macht, als Symbol der Einheit zwischen Staat und Kirche. In einzigartiger Weise verbindet und vereint das Kastell die verschiedenen Einflüsse aus der klassischen Antike bis staufischer Romanik, ohne direkte Kopien, sondern durch konzeptionell neue Verbindungen. Die Anlage ist, so ist zu vermuten, keine Kastellanlage im klassischen Sinne gewesen, sondern in erster Linie ein Repräsentationsbauwerk, dass unterschiedlichste Konzepte von Aufenthaltsmöglichkeiten aufweist.

Wie wir in Alberobello gesehen haben, das Gebiet der Trulli, den autochthonen Hirtenhäuschen, konnte sich eine besondere architektonische Bauweise durchsetzen, dessen Bevölkerung sich im 17. Jahrhundert auf Kosten des Staates ihre „falschen“ Kuppeln mörtellos bauten, um keine Steuern zahlen zu müssen. Die in Kalksteinfelsen gehauenen Höhlenwohnungen in Matera zeigten uns eine andere, hoch umstrittene Möglichkeit von Aufenthalt. Als der von den Faschisten verbannte Schriftsteller Carlo Levi mit seinem Roman „Christus kam nur bis Eboli“ 1945 auf die erbärmlichen Lebensverhältnisse in den Sassi aufmerksam gemacht hatte, verursachte die unverblümte Wahrheit nationale, sowie internationale Aufruhe. Unser Weg von der Busstation in Matera Moderna führte durch die Oberstadt, die mit Kirchen und Palästen aus Herrschaftszeiten noch gut erhalten ist, in die Unterstadt, wo bis vor wenigen Jahrzehnten Mensch und Tier auf engstem Raum in ihren Höhlen zusammenlebten. 

Der Einfluss des „schützenden“ Glauben zu christlich geprägten Zeiten hat den Zusammenhang der privaten und gemeinschaftlich genutzten Räume sicherlich beeinflusst. Kirchen waren zentrale Begegnungsorte, die Anteil an den Einflüssen verschiedener Kunst- und Baustile hatten, was wir anhand den zeitlich charakteristischen, übereinander gelagerten Putz-Schichtungen an den Kirchenwänden erkennen konnten. Die Möglichkeiten, die die Negativarchitektur in Form von Vorbauten der Eingänge, gewölbten Decken und freiliegenden Felswänden darbietet, kam den Sassi-Bewohnenden zu Gute. Der leicht formbare Tuffstein erlaubt es ganze Zisternenkomplexe unterirdisch zu verbauen; Speicherung von Wasser und anderen Ressourcen war von überlebenswichtiger Notwendigkeit. 

Auch für uns ist Wasser mittlerweile eine Knappheit. Im umweltbedingten Kontext, werden heute Lösungen entwickelt, wie die Biodiversität in den Städten erhöht werden kann; in Form von fassadenintegrierten Brut- und Nistkästen, landschaftsarchitektonischen, sinnvoll bepflanzten Grünflächen oder modernen innerstädtisch integrierten Regenwasser-Auffang-Systemen. Die Entstehung dieser Knappheit ist der Menschheit verschuldet, welches sie auch bleibt, wenn wir es nicht schaffen zusammenzurücken und gemeinsam lösungsorientiert dem Thema der Nachhaltigkeit entgegenzutreten. 

Die Umsiedlung der Sassi, Anfang der 50er Jahre, begegnet dem Zwiespalt zwischen Vernichtung und Schutz. Dass sich ein inneres Unwohlsein beim Begriff der (Zwangs)Umsiedlung ausbreitet, ist absolut nachvollziehbar. Gleichzeitig war der hygienische Zustand in den Sassi so überholt; eine Kloake, die zur Gefährdung des gesundheitlichen Zustands der mittlerweile divergiert priviligierten Bevölkerung beitrug. Dass die Bewohnenden in fast unzumutbaren Armutsverhältnissen lebten, ist nicht zu romantisieren. 

Heute sind beide Orte, Alberobello und Matera, dem Kult-Tourismus unterworfen, wobei sich die historischen Hintergründe und gesellschaftlichen Folgen durchaus unterscheiden. Unsere Erkundung des Umsiedlungsgebiets Spine Bianche erzeugte kontroverse Diskussion. Das besichtigte Gebiet orientiert sich architektonisch an den Baustil des Neorealismus. Die verklinkerten, niedriggeschossigen Zeilenbauten bilden durch ihre orthogonale Anordnung großzügige Höfe. Der Planungsprozess hätte definitiv integrativer und partizipatorischer verlaufen können, was oberflächliche Umfragen, die letztendlich zu einer Sortierung der Bevölkerung anhand ihrer Berufung beitrugen, nicht gewährleisten konnten.

Die Bausubstanz befindet sich noch in gutem Zustand, die Freiflächen werden eher von Natur statt Mensch in Angriff genommen, woraus sich schließen lässt, dass das enge soziale Umfeld und der enge Kontakt zu den Nachbarn nachgelassen hat und eine gewisse Entfremdung, nicht nur zu den Menschen, sondern auch zur Natur entstanden ist. 

Heute ist es undenkbar, dass die Sassi nach der unruhestiftenden Stigmatisierung wiederbewohnt werden könnten. Dementsprechend ist es vielleicht umso wichtiger, die heutigen Siedlungen genauer zu betrachten und das Potential in den wohnlichen und, insbesondere, den gemeinnützigen Flächen zu erkennen und zu integrieren, und somit Orte für Gemeinschaft und Begegnung zu schaffen. Was brauchen diese Orte und inwiefern können oder müssen sie sich den heutigen, aktuellen Bedürfnissen der Bewohnenden anpassen?

Die Bedürfnisse hinsichtlich des Wohnens haben sich verändert und spiegeln sich oftmals in den städtebaulichen Entwicklungen wieder. In Bari trennt der Corso Vittorio Emanuele II die Altstadt von der Neustadt. Wie eine Schneise verbindet sie den im Osten gelegenen Giardino Garibaldi mit dem im Westen gelegenen Theater am Hafen. Während die Altstadt im Luftbild ein Konglomerat an verwinkelten, schmalen Gassen aufweist, erfuhr die Neustadt 1813 eine Modernisierung, die die Anwendung eines strengen Achsenrasters unterlief. Eine weitere Trennachse bildet die Eisenbahnlinie, die die Stadt des 19. Jh und der „neuen“ Stadt südlich des Bahnhofs trennt. Die „neue“ Stadt hat durch ihre radiale Struktur mit Zerstreuung und Zersplitterung zu kämpfen, die zu territorialen Grenzen geworden sind. Es ist eine städtebauliche Herausforderung das Fragmentieren der Stadt aufzuhalten und konzeptuell nachhaltige und langwierige Lösungen zu finden. Andererseits ist die Herausforderung groß, die Qualitäten der „alten“, historischen städtebaulichen Strukturen zu bewahren und gleichzeitig durch architektonische Maßnahmen mehr Verknüpfungen und (gesellschaftliche) Zusammenkünfte zu schaffen.

In Tarent lässt sich heute auch noch ein städtebauliches Raster der Neustadt ablesen, das sich jedoch relativ bald fächerhaft, radial aufspreizt und dementsprechend weniger streng wirkt. Die Stadt, die an zwei Meeren liegt, dem Mittelmeer, Mar Grande, und dem Mar Piccolo, lässt sich in drei unterschiedliche städtebauliche Bereiche unterteilen. Im Westen der Stadt besteht seit den 50er Jahren das größte Stahlwerk Europas, das wir bei unserer Ankunft mit dem Zug beim vorbeifahren bestaunen durften. Die Busfahrt vom Bahnhof zum Hotel führte uns über die Altstadt, die nur durch Brücken mit den westlichen und östlichen halbinselartigen Auskragungen des Festlands verbunden ist. Und der östliche Teil bildet, wie schon erwähnt, die rasterartige Neustadt. 

Zu einflussreichen architektonischen und städtebaulichen Veränderung trug der Faschismus zu Zeiten Mussolini bei. In Bari besichtigten wir das erste Grand Hotel mit verbundenem Wohnkomplex Albergo delle Nazione Complesso INA Casa, das heute als repräsentatives Beispiel für die faschistische Macht über die Architektur gilt. Der Staatsapparat förderte moderne Architektur und ihren repräsentativen, schmucklosen und rationalistischen Stil. In Tarent hat der Casa del Fascio eine martialische Wirkung durch den hohen hervortretenden Sockelbereich und den gewappneten Bronzeelementen an den Öffnungen. Der Bau ist Teil der „Bereinigungsmaßnahme“ der Strandpromenade, die im Zuge der Generalbebauungspläne mit der Machtübergreifung gestalt annahm. Die faschistische Formensprache drückt sich hier eher unförmig, klobig und unraffiniert aus, während der Palazzo del Governo, der sich ebenfalls entlang der Strandpromenade erstreckt, im Vergleich jedoch architektonisch raffinierter, pompöser wirkt. Die monumentale Wirkung und Bedeutung wird unterstützt durch den großen, halbovalen Vorplatz und die Unterbrechung der Baumreihen, die sonst kontinuierlich parallel entlang Küste verlaufen. Der Baukörper besetzt alle Kanten der Parzelle und bildet eine deutliche Hauptfassade, der den Machtanspruch des Mittelmeers an sich reißt. Die ablesbaren römisch-antiken Zitate und Festungs-Motive prägen den repräsentativen Bau, das auch hier zum Symbol der Macht des faschistischen Regimes wurde. 

Die Wahrzeichen der modernen Architektur von Tarent fanden wir beim Folgen der Via Dante vor. Das Centro Direzionale Beni Stabili bildet ein Komplex aus Verwaltungs-, Büro- und Wohngebäuden. Modernes Bauen in den 70er Jahren, wurde zunehmend von den Faktoren des Bevölkerungswachstums bestimmt, was Architekturen wie diese entstehen ließen, die so viel Wohnraum wie möglich unter platzsparenden Verhältnissen unterbringen sollten. Die gebogenen Gebäudeteile verjüngen sich Richtung Westen leicht, was am östlichen Teil eine Öffnung und somit ideale Platzierung für die öffentliche Bibliothek „Piertro Acclavio“ anbietet. Folgt der Blick der sich nach Westen verjüngenden Baukörper befindet sich, der Hauptstraße Via Dante folgend, ein weiteres Wahrzeichen Tarents. Die enorme Höhe der Bauten, der öffentlich zugängliche Platz, der sich auf zwei Ebenen zwischen den Gebäudeteilen erstreckt und die vermeintlich unendliche, ununterbrechbare Via Dante schärft den Blick auf die leicht erhobene Concattedrale Gran Madre di Dio.  Wie ein Schiff mit Segel spiegelt sich der Bau in den aufsteigenden Wasserbecken wieder. Die Entfernung von den klassischen sakralen Elementen, ersetzt der Architekt Gio Ponti durch die maritime Verbindung des Ortes, auch in den Innenräumen. Dem Viertel dient die Kirche als integrativer Bestandteil und Stärkung der Gemeindestrukturen und -funktionen, die der Distanz der Gesellschaft zur Religion entgegenwirken soll.

Ein weiterer Bau, den wir besichtigten, der im übertragenden Sinne ebenfalls eine Diskrepanz zu schließen vermochte, ist der Palazzo del Mezzogiorno. Die Diskrepanz, bzw. die besondere Synthese zwischen Alt und Neu, Tradition und Modernität, konnten wir anhand der verwendeten Materialien und deren traditionelle oder moderne Ausführung am Baukörper identifizieren. Der sich im ersten Obergeschoss befindende Fries, der ebenfalls Teil der ursprünglichen Planung des Gebäudekomplexes war, weist auf die Wichtigkeit der traditionellen, handwerklichen Tätigkeiten der Arbeiter:innen und der Landbevölkerung hin. Diese Verehrung findet sich an manchen faschistischen Bauten wieder, jedoch mit fragwürdig propagierenden Intentionen.

Wie es in der Arch*250 formuliert ist: Wir sind zur Reparatur verdammt. Nicht nur im architektonischen Kontext, sondern auch, und vielleicht viel eminenter, im sozialen, kulturellen und ökologischen Kontext. Unsere jetzige Ausrichtung des Wirtschaftssystems führt nur zur weiteren schonungslosen Ausbeutung aller natürlichen Ressourcen. Ist Reparatur nicht gerade das Weiterbauen mit dem Bestehenden? Muss nicht gerade bei einer Reparatur das Bestehende zuerst verstanden und respektiert werden? Vielleicht ist es die Politik der kleinen Schritte, die uns hilft voranzukommen, um auf mehreren Ebenen grundlegende reparaturorientierte Fragen zu klären und schließlich mit radikalem Mut umzusetzen. 
Elena Mertens