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Dr. Carlos Romero Grezzi vor dem Hauptgebäude der Bauhaus-Universität Weimar. (Foto: Philipp Viehweger)
Erstellt: 04. Juni 2024

„Den ÖPNV verbessern, heißt Chancen schaffen.“

Überlegungen zur Zukunft der Mobilität und darüber, wie alle Menschen gleichermaßen und gerecht mobil sein können, enden nicht an Ländergrenzen. Einen großen Beitrag hierzu kann der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) leisten. Dr. Carlos Romero Grezzi ist jemand, der sich mit der umfassenden Neuorganisation eines Nahverkehrsangebots bestens auskennt.

Er sieht Bus und Bahn als Möglichkeit für die strukturelle Entwicklung von Regionen. Im argentinischen San Juan haben er und sein Team innerhalb weniger Jahre das geschafft, was andernorts Jahrzehnte dauert: Als Direktor für Transit- und Mobilitätsplanung der Regierung der Provinz San Juan hat er in den Jahren 2020-2023 das existierende ÖPNV-Netz von San Juan eruiert, die Routen der Buslinien anhand der Bedürfnisse der Einwohnenden neu definiert, auch um Halte in den ländlichen Regionen erweitert, Preise angepasst, Möglichkeiten der Barrierefreiheit getestet und umgesetzt, eine offizielle App zur Nutzung eingeführt sowie die Anschaffung neuer Busse vorangetrieben. 

Die Professur Verkehrssystemplanung durfte Carlos nun einen Monat lang als Forschungsgast zur Zukunft der Mobilität begrüßen. Es ist kein Zufall, dass er Weimar als einen seiner Forschungsaufenthalte gewählt hat, denn 2018 hat er hier in einem Doppelabschlussprogramm mit der Nationalen Universität Córdoba in Urbanistik und Regionalstudien promoviert.

Carlos, woran arbeitest du gerade und welche Erkenntnisse erhoffst du dir, in Deutschland zu bekommen?

Ich bin nach Deutschland zurückgekommen, um über die Zukunft der Mobilität nachzudenken und mit Menschen zu sprechen. Welche Themen sind für Politik, Verwaltung und Forschung hierzulande interessant? In der Vergangenheit hatte ich viel Kontakt zu Verkehrsplanenden in anderen Ländern. Das Prinzip ist überall das Gleiche: Politische Entscheidungen, die das Mobilitätssystem betreffen, sind unpopulär, weil die Ausführung meist sehr langwierig ist. Darum müssen wir auch Veränderungen anstoßen, deren Ergebnisse bis zur nächsten Wahl sichtbar sind. Eingebettet sind diese natürlich in langfristige Perspektiven und einer progressiven Idee. Wichtig ist hierbei nicht nur, das Gespräch mit politischen Entscheider:innen zu suchen, sondern auch mit Journalist:innen und der Öffentlichkeit.

Du sprichst voller Begeisterung, was ist deine Motivation?

Ich erinnere mich an den Satz eines Professors der Bauhaus-Universität Weimar während der Erarbeitung meiner Doktorarbeit. Er sagte: ‚Wenn du wirklich von deiner Arbeit begeistert bist, dann stehst du auch am Sonntag auf und legst los.‘ Die Begeisterung habe ich mir beibehalten. Für den öffentlichen Sektor zu arbeiten bedeutet für mich, das Leben der Menschen in wenigen Jahren verbessern zu können. Bei der Erweiterung des Busnetzes in San Juan haben wir einige Ortschaften, die eher ländlich geprägt sind, angebunden. Die Einwohner:innen haben den ersten Bus mit Jubel und Transparenten empfangen! Es geht darum, Möglichkeiten zu schaffen. Um ehrlich zu sein, Argentinien gehört nicht zu den großen CO2-Verursachern des Planeten. Den ÖPNV verbessern heißt hier, vor allem Chancen schaffen, erst in zweiter Instanz geht es um Umweltschutz.

Gibt es eine Art grundlegendes Einverständnis der Verkehrsplanenden in Deutschland und Argentinien, wenn es um die Mobilität der Zukunft geht?

Ich habe festgestellt, dass, wenn wir in Argentinien über Mobilität sprechen, es häufig um Fragen zu Finanzierungen, Gehältern und Tarifen geht. Nur wenige Personen sprechen über die Zukunft, also Stadtentwicklung, neue Technologien, die Optimierung des Netzes und welche Möglichkeiten wir zur Verbesserung haben. Hier finde ich es sehr hilfreich, global zu denken, weil wir viele Herausforderungen teilen. Ich beobachte, dass die Entwicklungen in Deutschland eher langsam voran gehen und Entscheidungen viel Zeit in Anspruch nehmen, wobei sie auf einem hohen Standard basieren. Es gibt bereits ein sehr ausgefächertes Netz und viele Mobilitätsangebote. In Lateinamerika hingegen vollziehen sich einige Veränderungen schnell, doch fehlt es oft an dem für die Nachhaltigkeit erforderlichen Konsens und der Planung. Chile ist ein gutes Beispiel für eine sehr schnelle Anpassung an technologische Entwicklungen: Das Land hat sich schnell für den Weg der Elektrifizierung entschieden und derzeit die zweitgrößte elektrifizierte Busflotte der Welt.

Du bist nach einigen Jahren nach Weimar zurückgekehrt. Wie fühlt es sich an, wieder hier zu sein?

Ich fühle mich gleichermaßen akzeptiert und herausgefordert. Das ging mir hier schon immer so. Die Stadt ist sehr fragmentiert, du hast einerseits das universitäre, eher internationale Umfeld und dann wiederum das nicht-universitäre Umfeld. Als Fremder hatte ich immer das Gefühl, meine Ideen in einen Kontext einbetten zu müssen, um gehört zu werden und Diskussionen folgen zu können. Das ist anstrengend. Das Erlernen der Sprache hat geholfen, einige dieser Barrieren zu überwinden. Für mich ist es ein Antrieb, immer wieder zurück zu kommen und den Herausforderungen zu begegnen. Ich mag die Stadt sehr und verbinde viele schöne Erlebnisse und Begegnungen mit ihr. Wenn ich sehr in meinem Job in San Juan gestresst bin, denke ich mit Fernweh an Weimar.

Carlos Romero Grezzi verbringt die kommenden zwei Monate beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Berlin. Er arbeitet dort an der Entwicklung partizipativer Methoden für die Erstellung von Mobilitätsplänen. Anhand der Durchsicht von mehr als 100 Plänen aus verschiedenen Städten wird er Schlüsselaspekte identifizieren, die für zukünftige Mobilitätspläne in Deutschland wichtig sein können – wertvolle Erkenntnisse, die Carlos mit nach San Juan nehmen wird.