Björn Dahlems raumgreifende Installation »Wahrheitsraum (Palus Somni)« ist eine Auseinandersetzung mit der Deutung von Welt über das physikalische Modell und wissenschaftliche bildgebende Verfahren sowie deren Anspruch auf Gewissheit. Der »Wahrheitsraum« ist Utopie und Dystopie zugleich, ein unerreichbares Sehnsuchtsbild, ein eigentlich unbetretbarer Raum. Palus Somni, der »Sumpf des Schlafs«, nennt sich eine Ebene aus erstarrter Lava auf dem Mond nahe dem Mare Tranquilitatis, auf dem 1965 die Raumsonde Ranger 8 aufschlug und erste Fotos auf der Mondoberfläche machte. Der »Sumpf des Schlafs« scheint hier vor allem Metapher zu sein für das Paradox, dass ein Zuwachs an Wissen das Unwissen eher zu vermehren als zu vermindern scheint. Seit die Tiefen des Alls von immer stärkeren Teleskopen erkundet werden, haben wir Zugriff auf bildliche Informationen wie nie zuvor, und doch bleibt uns nicht nur der Weltraum unerklärlich, wenn nicht gar seltsam fremd. Der »Wahrheitsraum« ist in diesem Sinne ein Raum der konstruktiven wissenschaftlichen Ungewissheiten, der Ambiguität bewahrt und andere Modelle szientifischer Repräsentation erprobt, während seine schwarze Tür Zugang zur Erkenntnis verspricht. Ob es sich um einen Ein- oder den Ausgang handelt, bleibt offen.
Seit Ende der 1990er Jahre erforscht Dahlem, wie sich wissenschaftliche Weltbilder in Bildwelten übersetzen lassen, die sich nicht in der aneignenden Aufbereitung standardisierter Darstellungen erschöpfen. Seine Skulpturen und Installationen thematisieren den interstellaren Raum und seine Galaxien, Schwarze Löcher, Dunkle Materie und Sternenwolken, aber auch Theorien und Modelle aus Kosmologie, Teilchenphysik und Quantenmechanik in einer bewusst alltäglichen Materialität, die der wissenschaftlichen Fiktion von Welt eine eigene kunstimmanente, Widersprüche nicht zwangsläufig homogenisierende Realität gegenüberstellt.
Holzlatten, Neonröhren, Fundstücke und Alltagsobjekte werden zu modellhaften Abstraktionen, die sich als dreidimensionale Annäherung an etwas verstehen, das sich selbst der konkreten Greifbarkeit entzieht. Diese Arbeiten sind unperfekt und fehlerhaft, das aber mit Präzision. Sie produzieren sie keinen modellhaften Realismus, sondern eine anschauliche Annäherung, in der sich Naturwissenschaft mit philosophischen Überlegungen zu Darstellbarkeit und Intelligibilität des aus menschlicher Perspektive vollkommen Abstrakten verbinden. Dahlems Ästhetik des vermeintlich Einfachen erzeugt dabei eine Nahbarkeit, die aus Vertrautem schöpft. Gleichzeitig schaffen seine Installationen eine Gegenästhetik zur gängigen Idee, alle Fehlerhaftigkeit ließe sich eliminieren – auch in der Kunst.
Die strukturelle Vielschichtigkeit seiner Arbeiten entspricht insofern der Komplexität der Modelle und Theorien, denen er seine Motive entlehnt, lässt aber auch Raum für die individuelle Erkundungen der »Gehirnwellen«, der »neuen Himmelsgloben« und »Lichtsäulen«, die sich in Palus Somni begegnen. In Zeiten, in denen die »Flat Earth Theory« wieder mehr Anhänger findet und Verschwörungstheorien blühen, verbindet Dahlem Kunst und Wissenschaft, um Naturwissenschaft als nie vollständig rationales, sondern selbst von unbelegten Annahmen gelenktes, gerade dadurch aber Erkenntnis produzierendes Feld zu zeigen.
Vanessa Joan Müller, Kunsthistorikerin und Kuratorin
Björn Dahlem (*1974 in München, lebt und arbeitet in Berlin) ist Professor für Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar. Er stellt in seinen Arbeiten die Frage nach dem Zusammenhang von ästhetischer Bildwelt und wissenschaftlichen Weltbildern. International bekannt geworden ist er durch seine raumgreifenden Installationen aus einfachen Materialien, die ihren Ausgangspunkt in komplexen Fragestellungen wissenschaftlicher Theorien und Modelle finden. Dahlems Werke sind regelmäßig in internationalen Ausstellungen zu sehen und Teil bedeutender Kunstsammlungen, wie des New Yorker Museum of Modern Art.
Auswahl an Einzelausstellungen: The Still Expanding Universe, Kunstverein Wolfenbüttel, 2018. Mare Lunaris, Berlinische Galerie Berlin, 2015. The End of it All, Kunstverein Braunschweig, 2012. Silencio, Oldenburger Kunstverein, Oldenburg, 2012. Die Theorie des Himmels I – Die Milchstraße, KIT – Kunst im Tunnel, Quadriennale 2010, Düsseldorf, 2010. Solaris, Utopia Planitia II, Hamburger Bahnhof, Berlin, 2004. UCLA Hammer Museum, Los Angeles, 2004.
Auswahl an Gruppenausstellungen: Berta Fischer, Björn Dahlem, Naum Gabo – Into Space, Haus am Waldsee, Berlin, 2020. Irony and Idealism, Kunsthalle Münster, Münster, 2018. IRONY & IDEALISM, Gyeonggi Museum of Modern Art, Gyeonggi-do, South Korea, 2017. The Universe and Art, Artscience Museum, Singapore, 2017. The Universe and Art, Mori Art Museum, Tokyo, Japan 2016. Our Magic Hour – How Much Of The World Can We Know?, Yokohama Triennale 2011, Yokohama, Japan, Weltraum. Die Kunst und ein Traum, Kunsthalle Wien, Vienna, 2011. The Uncertainety of Objects and Ideas, Hirshhorn Museum, Washington, 2006. Busan Biennale, Busan Museum of Modern Art, Busan, Südkorea, 2006.
Ausstellungsdauer:
3. September – 17. Oktober 2020
Öffnungszeiten:
Dienstag bis Freitag, 12 bis 18 Uhr
Samstag, 11 - 16 Uhr
Ort:
Galerie Krinzinger
Seilerstätte 16
1010 Wien
galerie-krinzinger.at
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