Die Leute sagen einfach nicht, was ich hören will
Radiogespräch mit der Feature- und Hörspielautorin Marianne Weil.
In den Ton-Archiven schlummern abertausende Stunden Material mit unendlich vielen Stimmen von unendlich vielen verschiedenen Orten. Mitschnitte aus dem Gerichtssaal, Unterhaltungssendungen von drei Stunden, Politikerbesuche im Zoo, Reporter, Moderatoren, Politiker, Kabarettisten, Kommentatoren, Leute auf der Straße und und und. Diese Töne sind faszinierend oder langweilig, fremd oder vertraut, prägnant oder diffus. Wer damit etwas anfangen will, muss ganz rabiat vorgehen und zuerst die Oberfläche zerstören. Etwas pathetisch formuliert: er muss die O-Töne aus dem Zusammenhang befreien, isolieren, und sie für eine neue Rolle in einem neuen Kontext präparieren. Kurzum, er ist Chirurg und Schöpfer zugleich.
Die Montage, beziehungsweise das montierende Subjekt, inszeniert neue Bezüge, lässt Stimmen aufeinandertreffen, die nie miteinander gesprochen haben, enthüllt, stellt aus, stellt klar, verzerrt, verstärkt, unterschlägt, kombiniert, konfrontiert, variiert und lässt auf diese Weise hören, was so nie gesagt wurde. Eine Montage ist ein kreativer Spaß, eine Gehirnwäsche des Gedächtnisses mit sowohl überraschenden als auch erschreckenden Effekten.
Marianne Weil hat diese Montage-Kunst als Autorin par excellence erprobt. Ob in ihrem neuesten Stück Transitraum Übergang (Deutschlandradio Kultur/RBB/SR 2012), einer Montage aus Archiv-Material mit Wetter, Musik und Nachrichten, die sich der Zeit nach dem 3. Oktober 1990 widmet - dem Beginn einer kollektiven Wunscherfüllung mit all seinen Schrecken der wechselseitigen Selbsterkenntnis. Oder in "Dem ...eutschen ...olke" (SR/SFB 1995, Hörspielpreis der Akademie der Künste Berlin), einem Stück, dessen Titel sich an die kaputte Inschrift des Reichstagsgebäudes vor 1989 anlehnt. Immer wieder ist es die Rhetorik des Kalten Krieges, die sie in ihre ideologischen Figuren zerlegt, analysiert und neu inszeniert, nachdem 1990 die Archive der DDR zugänglich wurden.
Ein Radiogespräch über die verschiedenen Möglichkeiten, mit dem Klangmaterial aus den Archiven zu basteln und ein Aufruf, die schlummernden Schätze aus ihrem Tiefschlaf zu entreißen.
Marianne Weil
1947 in Darmstadt geboren, studierte Literaturwissenschaft und promovierte 1977 über Walter Benjamin. Sie arbeitet seit mehr als 30 Jahren für das Radio. Sie schreibt über Literatur, Kabarett und kulturhistorische Themen. Dazu kommen O-Ton-Hörspiele und Features über Menschen, Tiere und Pflanzen.
Als nach 1990 die Archive der DDR zugänglich wurden, widmete sie sich in einer Reihe von Stücken der Rhetorik des Kalten Krieges, die sie in ihre ideologischen Figuren zerlegte, analysierte und neu inszenierte.
Radiogespräche sind eine Veranstaltung der Professur Experimentelles Radio an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar.
Termin und Ort: Dienstag, 27. November 2012 um 19:00 Uhr im Glaskasten der Limona, Steubenstraße 6a, Weimar