Wieso sollte jemand einen Griff auf einen Stein schrauben, wenn sowieso jeder Stein die Funktion als Briefbeschwerer, Türstopper, Nothammer etc. erfüllt?
Um den Stein anzuheben greifen 99 % aller Probanden zum aufgeschraubten Griff, Fragen nach Temperatur bzw. Oberflächenbeschaffenheit, können meist erst unter Zuhilfenahme der zweiten Hand beantwortet werden. Der Preis für die Vereinfachung der Handlung ist eine Verkürzung der Wahrnehmung.
Die Zuverlässigkeit des Experiments Stein mit Griff erstaunt: Egal wie absurd der Griff scheint sind Probanden geneigt, überall dort wo er auftaucht, denselben zum Greifen zu nutzen. Die Frage warum das so ist, kann leicht mit Komfort, Gewohnheit etc. beantwortet werden.
Im Kontext verhaltenszentrierter Nachhaltigkeit löst der Stein mit Griff interessante Fragen bzgl. der Wirkung von Automatismen (in komplexeren Produktkontexten) aus:
Was ist der Preis für Vereinfachungen?
Wie häufig unterliegen Menschen (unbemerkt) Handlungsautomatismen?
Wie beeinflusst die Verkürzung unserer Wahrnehmung unser Bewusstsein?
Welche Wirkung haben Automatismen auf unser Verhalten?
Besitzen auch beiläufige Alltagsinteraktionen Einfluss auf die mentale Transformation?
In welcher Relation stehen Quantität und Qualität bei der Einflussnahme?
Wo können wir als Produktdesigner Achtsamkeit trainieren helfen?
Den Rasen von Hand zu mähen bringt auf dem Hintergrund des Wissens um CO2-Probleme Satisfaktion, den Kaffee von Hand zu kurbeln ebenso (auch wenn es mehr Zeit braucht), die Vorteile des Fahrradfahrens gegenüber dem Autofahren (nicht nur in CO2-Hinsicht) gelten heute auf vielen Ebenen als state oft the art. Kontemplative Pausen im Alltag sind zunehmend Mangelware, sie fungieren als Katalysator bei der Entdeckung eines Mehrwertes von Entschleunigung, Deautomatisation und Entmaschinisierung.
Wer sich keine Schafe hält, keine Übung im Umgang mit der Sense hat, noch keinen Mähroboter besitzt und auch nicht auf die Verwendung von Spindelrasenmähern steht, der wählt nicht selten den elektrischen Rasenmäher. Wem diese Entscheidung in mehrfacher Hinsicht wenig ökologisch scheint, dem sei die Verwendung eines grünen Rasenmäherkabels empfohlen, so trainieren Sie mit jedem Einsatz des elektrischen Rasenmähers Ihre Aufmerksamkeit.
Während Lucius Burckardt schon vor 30 Jahren die Fragwürdigkeit der Reibungslosigkeit benannt hat, wissen heute alle, im Kontext des bekannten Triptychons Nachhaltigkeit–Ganzheitlichkeit–Achtsamkeit, dass unser Bewusstsein für ökologisches Verhalten von Achtsamkeit profitiert: Achtsamkeit ist eine Kompetenz, die im Interesse ökologischen Verhaltens trainiert werden sollte.
Da der moderne Mensch in vielen Situationen zu Unachtsamkeit erzogen wird – häufig ohne sich dessen bewußt zu sein - interessiert den Produktdesigner die Frage, wo die Grenze zwischen Sicherheit und Gefährdung verläuft, um den alltäglich verfügbaren Spielraum des Achtsamkeitstrainings sinnvoll auszuloten, denn die Konzeption ökologischer Produkte beinhaltet das Training der Achtsamkeit. Der Mehrwert beiläufigen Achtsamkeitstrainings durch Umweltgestaltung intendiert immer wieder die Frage, auf welche Bereiche/ Nischen das alltägliche Trainieren sinnvoll auszuweiten möglich ist.
Produkte können dieses Bewusstsein im modernen Alltag erlebbar und nutzbar machen. Design kann Starthilfe geben, kann Einstiegshürden überwinden helfen, kann Einbrüchen entgegenwirken ... das alles unterstützt die Entwicklung eines suffizienten Bewusstseins.
Beispiel 1
Nach diversen Jahrzehnten der Schuhgeschichte, welche dem gestrigen Credo der Schuh muß Schützen und Stützen um überhaupt zu Nützen folgt, greifen heute viele Schuhhersteller und Käufer mit der Nutzung von Barfußschuhen auf das – jedem Orthopäden vertraute – Wissen zurück, dass barfusslaufen am gesündesten für die Entwicklung der Füsse und den Erhalt der orthopädischen Gesundheit ist. Dieser Schritt, vom Schuh als Orthese zum Barfußschuh, ist ein Paradigmenwechsel, der sehr zögerlich angefangen hat und heute als nahezu selbstverständlich gilt.
Beispiel 2
Noch 1980 war es üblich, die Raucher vor den Nichtrauchern zu schützen. Im Schulbus, auf der Arbeit, in der Kneipe besaß der Raucher die Freiheit, zu rauchen, alle Mitmenschen die sich dadurch beeinträchtigt fühlten, hatten sich unterzuordnen. Die Idee, dass der Raucher sich einzuschränken hätte, galt als komplett absurd. Erst 30 Jahre später werden die Nichtraucher vor den Rauchern geschützt, ein Zustand der damals – allein schon mit Rücksicht auf die Tabakindustrie – weder erwünscht noch vorstellbar war.
Vergleichbare Schieflagen zwischen Nutznießer/ Verursacher einerseits und Umweltkosten andererseits, beobachten wir heute im Kontext Nachhaltigkeit. Wirtschaftliche Interessen, sog. Gewohnheitsrechte und Privilegien behindern eine Neugestaltung der gesellschaftlich kulturellen Rahmenbedingungen. Die Welt ist im Wandel und die Unumstößlichkeit bestehender Ordnungen ist gestrig.
Wer kennst es nicht, das Schildchen der Deutschen Bahn mit der Aufschrift, Bitte verlassen Sie diesen Raum so, wie Sie ihn vorfinden möchten. Wer hat schon Zeit, Material und Lust, im Gegenzug für die Benutzung der Toilette im ÖPNV dieselbe so herzurichten, wie man sie gerne vorgefunden hätte … im günstigsten Falle einigt man sich kommentarlos auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, alle Gebrauchsspuren zu entfernen. Was ist passiert? Wieso scheint die Selbstverständlichkeit die Toilette sauber zu hinterlassen verloren? Sogar die benennende Aufforderung scheint wirkungslos.
Wir sind imstande, sprachlich fünf Nationalitäten zu bedienen und scheinen Nation übergreifend gezwungen, den Folgeschäden der Automatisierung im Einzelfall begegnen zu müssen. Bewegungsmelder, Infrarotschalter etc. haben einen Grad der Automatisation im Alltag etabliert, dass der gut gemeinte Vorschlag (Abb. Toilette des Neubaus der Weimarer Anna Amalia Bibliothek) manuelle Wasserhähne zu installieren, beschädigt wird durch die mangelnde Bereitschaft/ Achtsamkeit, den Hahn nach der Benutzung händisch wieder zu schließen. Man mag den Verlust an Selbstverständlichkeit in diesem Kontext belächeln, man kann auf die Verfügbarkeit automatisierter Lösungen verweisen und trotzdem ploppt die Frage auf, wie wir der Inflation traditioneller Selbstverständlichkeiten begegnen wollen.
Kompetenzen wollen trainiert werden. Wenn wir in den kleinen Alltäglichkeiten das Verstehen, das Üben und das Erlernen trainieren, dann kann Wachstum stattfinden. Wer Großes will, sollte klein anfangen um im Prozess größer/ besser zu werden, so einfach funktioniert der Mensch. Umwelten, welche die Kleinigkeiten kappen, verhindern den Startschuss, die konsekutive Ausweitung und den Transfer. Wen sollte es da wundern, wenn mangelnde Verantwortung und Rücksicht in größeren gesellschaftlichen Kontexten zu wünschen übrig lassen?
Wie könnte eine produktgewordene Lösung jenseits von Automatiken und Hinweisschildern aussehen?