BARNABAS HERRMANN (Leipzig) // Eintreten in die Gegenwart

SESSION II

Während sich die Zeit unhaltbar von der Vergangenheit in die Zukunft verschiebt, leben wir permanent in der Gegenwart: Einem schmalen Grat zwischen dem, was nicht mehr existiert und dem, was noch nicht existiert. Wie sehr unsere Erfahrungen von der Zeit abhängen, bleibt uns häufig unbewusst. In Anbetracht der phänomenologischen Untersuchungen Edmund Husserls, wird deutlich, dass sich die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft öffnen müssen, um Erfahrungen bewusst erlebbar zu machen und ein gelingendes Leben zu ermöglichen.

In Session II zeigte Barnabas Herrmann, Studierender der Schulmusik, Kunstpädagogik und Philosophie in Leipzig die Ambivalenz der Zeit als Bedingung für Resonanzerfahrungen auf. Während die Zeit Erfahrungen überhaupt ermöglicht, hindert sie zeitgleich daran, diese Erfahrungen ganz auszuleben. Dem begrifflichen Denken fällt es jedoch schwer durch kohärente Beschreibungen die Gegenwart zu öffnen.
Auf dieses Problem reagiert Herrmann mit einem spezifischen Umgang der Musik als Zeit-Kunst: Der Improvisation. Eine Kunstform, die die Gegenwart schon immer als ihr ureigenes Feld einnimmt. Im Gegenzug zur komponierten Musik, entsteht improvisierte Musik in Echtzeit. Ohne Partitur geschehen Aktion und Reaktion im gemeinsamen Moment. Was vom einem Moment zum Nächsten geschieht, bleibt unvorhersehbar. Die improvisierte Musik verhilft uns also, die Gegenwart zu erfahren.

In Herrmanns Lecture-Performance wurden inhaltliche Ausführungen zu den Themen Lebenszeit und Zeitkunst von künstlerisch-performativen Elementen unterbrochen. Die eingeflochtene Vokalimprovisation geht von klanglichen Bestandteilen der Stimme aus. Die Sounds wurden jedoch so verfremdet, dass sie weder Sprache noch Gesang ergaben. Hörbar wurden die Obertöne der Stimme, welche beim Sprechen jederzeit „mitschwingen“, jedoch nicht bewusst wahrgenommen werden. Dieser neu erzeugte musikalische Sinn eröffnete den Teilnehmenden die Möglichkeit, geöffnete Gegenwart zu erfahren.

Ein Bericht von Sandra Rücker 

Weiterführende Literatur
Edmund Husserl: „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ (Hamburg 1985)
Michael Theunissen: „Negative Theologie der Zeit“ (Frankfurt 1991)
Francois Jullien: „Philosophie des Lebens“ (Wien 2012)
Christopher Dell: „Prinzip Improvisation“ (Köln 2002)
Dieter Mersch: „Epistemologien des Ästhetischen“ (Zürich-Berlin 2015)
Raymond Tallis: „Of Time and Lamentation“ (Newcastle 2017)
Gunnar Hindrichs: „Die Autonomie des Klangs“ (Berlin 2014)