DFG-Graduiertenkolleg Medienanthropologie
Heutzutage ist man nahezu täglich mit Meldungen über international bahnbrechende Entwicklungen in Prothetik, Robotik, Biogenetik, Militärtechnik, Kommunikationstechnologie, AR/VR, künstlicher Intelligenz und Gerätemedizin konfrontiert. Sie werfen grundlegende Fragen danach auf, wie menschliche Existenzweisen angesichts dieser invasiven Veränderungen zu begreifen und zu verorten sind. Wo fängt menschliche Existenz an? Wo hört sie auf? Wie ist mit herkömmlichen Unterscheidungen der Lebensorientierung – wie denen zwischen Mann und Frau, eigen und fremd, Mensch und Nicht-Mensch, Natur und Technik, Herkunft und Zukunft – umzugehen?
Das GRAMA stellt sich diesen Fragen mittels eines relationistischen Ansatzes. Während man gemeinhin davon ausgeht, dass Relationen nur zwischen zwei bereits für sich existierenden Relata bestehen können, so ist es hier gerade umgekehrt: Der Relationiertheit soll analytisch gegenüber ihren Relata – also Menschen und Medien – der Vorrang eingeräumt werden. Statt nach einer einheitlichen menschlichen Natur zu fragen, die erst durch additiv hinzutretende Technikbedingungen verändert wird, rückt das Spektrum existenzbildender Operationen der Verschränkung von Medien-und-Menschen in den Fokus.
Warum Medienanthropologie und warum jetzt?
Zwischen alltäglicher Kommunikation und allgegenwärtigen Sensoren, zwischen geteilten Bildern und Klimakatastrophe, zwischen Homeoffice und künstlicher Intelligenz wird deutlich, was bereits seit langem der Fall ist, nämlich das menschliche Handlungen und Erfahrungen mit allerlei technischen Medien nicht nur zusammenhängen, sondern in vielerlei Hinsicht davon abhängig sind: Medien und Menschen sind untrennbar miteinander verstrickt. Dies wirft grundlegende Fragen danach auf, wie menschliche Existenz gegenwärtig zu begreifen und verorten ist, wo sie anfängt und aufhört und wie mit bisherigen Unterscheidungen—etwa von Menschen und Nicht-Menschen, Natur und Technik, eigen und fremd, Mann und Frau—umzugehen ist, wenn sie den tatsächlichen Vermischungen und Verstrickungen menschlicher Existenz nicht mehr gerecht werden.
Stand menschliche Existenz im 20. Jahrhundert dominant im Zeichen zweier Weltkriege, globaler Demokratisierung und war geprägt vom Aufstieg der Massenmedien, Computer- und Atom(bomben)technik, so wird sie nunmehr durch pervasive Informationstechnologien transformiert und von ökonomischen und ökologischen Krisen weiter verunsichert. Die daraus resultierenden Probleme der (Un-)Überschaubarkeit und Kontrolle von Lebenswelten—also Probleme von Wissen und Macht—drängen auf Lösungen, die jedoch von keiner allgemeingültigen, monopolistischen Instanz mehr zu bekommen sind. Auf der Ebene individuellen Handelns und Denkens derweil, ist eine Abhängigkeit von Medientechnologien in vielen Fällen längst zum Normalfall geworden. Kommunikationspraktiken, Verhaltens- und auch Wahrnehmungsweisen, die ohne Medien undenkbar wären, sind gewöhnlich und alltäglich. Sie zählen zum normalen Habitus und neigen dazu—wie auch viele der medientechnischen Prozesse als solche—sich der direkten Beobachtung und Reflexion zu entziehen. Gekennzeichnet von existentiellen Orientierungsversuchen und einer besonderen Fragilität, verlangt unsere mediatisierte Gegenwart nach einem Ansatz, der sowohl die praktischen, materiellen Verstrickungen von Menschen und Medien in den Blick nimmt als auch ihre theoretischen Implikationen.
Die Forschung am GRAMA stellt sich diesen Aufgaben, indem sie die grundlegende Verstrickung und Relationiertheit von Menschen und Medien konsequent zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen macht. Dabei spielen medientheoretische, kulturelle und politische Fragen ebenso eine Rolle wie ästhetische, epistemologische, soziologische und historische Gesichtspunkte.
Der medienanthropologische Ansatz
Viele geisteswissenschaftliche Ansätze, die die Relationen zwischen Menschen und Medien in den Blick nehmen, tendieren dazu, anthropologische Fragen nur auf eine indirekte Weise zu verhandeln. Viele wichtige Theorieentwicklungen seit dem Aufstieg des Dekonstruktivismus—etwa die Akteur-Netzwerk-Theorie, Gender und Queer Theory oder die Object Oriented Ontology—werden mit gutem Grund von einem anti-anthropozentristischen Impuls durchzogen. Ausgehend von Friedrich Kittlers berühmtem Diktum, dass Medien unsere Lage bestimmen, sind Überlegungen zur Obsoleszenz des ‚sogenannten Menschen‘ und dessen symbolischen Sinnorientierung insbesondere auch den deutschsprachigen Medienwissenschaften, der Medienphilosophie und verwandten Disziplinen grundlegend eingeschrieben. Die Abkehr von der Fiktion eines souveränen menschlichen Subjekts ändert jedoch nichts daran, dass diese und ähnliche, selbst technikdeterministische Ansätze bestimmte Annahmen über (möglicherweise obsolete) Menschen machen und von wirkmächtigen anthropologischen Begrifflichkeiten geprägt werden.
Will man weder hinter die grundlegende Einsicht zurückfallen, dass menschliche Existenz medientechnisch bedingt wird, noch menschliche Existenzweisen epistemisch oder ontologisch auf ein Abstellgleis schieben—und will man nicht die wichtigen politischen Fragen ignorieren, die an Ideen über Menschen und Menschlichkeit unweigerlich hängen—, so ist eine Perspektivverschiebung nötig. Statt ‚Menschen‘ als gegebene, stabile Größen zu begreifen, die dann anschließend durch medientechnische Einflüsse verändert werden, gilt es ernst zu nehmen, dass und wie menschliche Existenzen sich im Wechselspiel mit verschiedenen Akteuren, Körpern, Umwelten, Erfahrungen, Konzepten usw. entfalten. Die komplexen medialen und anderweitigen Verschränkungen, in denen menschliche Wahrnehmungen und Handlungen jeweils stattfinden, treten nicht nachträglich zu diesen hinzu, sondern sind ihre konstitutive Grundlage. Geht man gemeinhin davon aus, dass Relationen zwischen zwei jeweils für sich existierenden Elementen bestehen, so verläuft das Argument hier demnach genau umgekehrt: Das dynamische Gefüge menschlicher, technischer, medialer, konzeptioneller und anderer Prozesse existiert und ereignet sich vor der Differenzierung oder Benennung einzelner Aspekte—die Relationen gehen ihren Relata voraus.
Vor diesem Hintergrund richtet sich die medienanthropologische Forschung am GRAMA auf Phänomene und Theorien der Vermischung und Verschränkung. Sie interessiert sich dafür, wie menschliche und mediale Elemente einander immer schon formieren, wie sie in Erscheinung treten und befragt oder überhaupt gedacht werden können. Neben entsprechenden historischen und theoretischen Überlegungen über derartige Verschränkungen liegt dabei ein besonderes Augenmerk auf ästhetischen Zusammenhängen. Diese erlauben nicht nur eine Beobachtung menschlich-medialer Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, oftmals produzieren, transformieren oder verhandeln sie diese darüberhinaus, weshalb sie sich—weit über künstlerische Milieus hinaus—für medienanthropologische Forschung besonders anbieten. Es geht dann zum Beispiel darum, wie in der gegenwärtigen Politik ‚Expert:innen‘ im Wechselspiel menschlicher und medialer Zuschreibungen figuriert werden, wie und was ‚Berührung‘ an der Schnittstelle menschlicher und technischer Sensibilität sein kann, oder wie menschliche Körperlichkeiten in verschiedenen Medienzusammenhängen inszeniert, entgrenzt, konsumiert oder verhüllt werden. Auch viele weitere Forschungsfelder sind denkbar und vielversprechend: von spezifischen Medienmilieus, in denen Mensch-Medien-Relationen anschaulich oder transformiert werden (Film, Theater, Games, Ausstellungen, Archive, VR/AR usw.), über Praktiken und medientechnische Prozesse (der Wissensproduktion, Immersion, Affizierung, des Entwerfens, Wegwerfens usw.) bis hin zu den Ansätzen und Werken einzelner Denker:innen, die es zu reperspektivieren lohnt.
Vom Primat der Relationiertheit her zu denken, hat als Heuristik mehrere entscheidende Vorteile: Erstens vermeidet es einen Rückfall in ahistorische Konzepte ‚des Menschen‘ und ähnliche substanzmetaphysische Wesensbestimmungen. Zweitens erlaubt es eine Distanzierung und produktive Reflexion anthropozentrischer Perspektiven, ohne dabei umgekehrt in einen ebenso problematischen Technikdeterminismus zu kippen. Und drittens liefert ein derart relationalistischer Ansatz die notwendige Grundlage, um unterschiedliche medienanthropologische Formen und Prozesse zu verhandeln, ohne die dabei freigelegten Charakteristika und Existenzweisen erneut deiner universellen, abstrakten Einheitlichkeit zuführen zu müssen.
Die medienanthropologische Ausrichtung des GRAMA informiert eine interdisziplinäre Forschungsperspektive, die in ihren Schwerpunkten und ihrem Vorgehen anderen relationalen Ansätzen—etwa aus den Kulturwissenschaften, der Affekttheorie, Ästhetik, dem Postkolonialismus, New Materialism und nicht zuletzt der Akteur-Netzwerk-Theorie—eng verbunden ist. Ähnlich wie diese richtet sich das Forschungsinteresse am GRAMA weg von traditionellen philosophischen oder anthropologischen Versuchen, ‚Menschen‘ oder menschliche Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen übergreifend und verallgemeinernd zu bestimmen. Stattdessen liegt das Augenmerk auf der Untersuchung und Reflexion der pluralen, komplexen, kontingenten Relationen, die sich zwischen Menschen und Medien aufspannen. Das Ziel ist es, die mediale Durchdringung menschlicher Handlung, Erfahrung, Subjektivität etc. ernst zu nehmen, ohne dabei die konkreten politischen und existentiellen Fragen aus den Augen zu verlieren, die daraus für unsere Gegenwart resultieren.
Das Graduiertenkolleg Medienanthropologie (GRK 2558) wird gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und schließt an die Arbeit des ProExzellenz-Projekts Kompetenzzentrum Medienanthropologie (2015-2019) an, das die Nachwuchsförderung in medienanthropologischer Forschung an der Bauhaus-Universität Weimar erstmalig etabliert hat.