Dr. Stephan Zandt

Projekttitel

Kinder und Tiere: anthropomediale und (post-)koloniale Relationen im Anthropozän

Projektbeschreibung

Die Krise unserer Lebens- und Beziehungsweisen erscheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts allgegenwärtig: Klimawandel und Artensterben machen im Anthropozän deutlich, wie sehr der anthropos, entgegen seiner westlich-modernen Exzeptionalisierung, in hybride und geteilte Existenzbedingungen eingelassen und lokal wie global von der Diversität anderer Lebensformen abhängig ist. Gegenwärtig sind es dabei gerade Kinder, die als entschiedene Akteure einer notwendigen Neugestaltung unserer Beziehungen zu nichtmenschlichen Entitäten in den Blick geraten. Gerade ihnen wird zugetraut, neue Dispositionen, Formen des sich verwandt machens, partielle Verbindungen und einen ethos der relationalen Verwicklungen zu bilden, die der Tatsache eines natureculture-Kollektivs gerecht werden.

Aus medienanthropologischer Perspektive wendet sich das Forschungsprojekt den medien-ästhetischen Milieus der Kindheit zu, um mit Blick auf die Gegenwart und Geschichte der Kind-Tier-Beziehungen seit 1900 der Frage nach der medialen und relationalen Konstituierung und Rekonstituierung besagter Dispositionen nachzugehen. So fragt das Projekt nach den in je konkreten Medienmileus situierten, beziehungsstiftenden Praktiken, sowie nach den aus ihnen hervorgehenden Habitualisierungen von Identifikations- und Beziehungsschemata. Dabei stehen auch und gerade die rekursiven Effekte im Fokus, in denen sich Kinder, Tiere und Medienmilieus wechselseitig konstituieren.

Schon früh spiegelten Ethnologie, Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse unter „primitivistischen“ Vorzeichen die Tier-Beziehungen westlicher, weißer Kinder nachdrücklich in den fremdkulturellen Relationierungen außereuropäischer Kollektive und First Nations. Aus medienanthropologischer Sicht erscheint dabei bemerkenswert, dass die kindliche „Indianisierung“ mitsamt ihrer relationalen Nähe zu nicht-menschlichen Tieren nicht nur theoretisch konstatiert, sondern im Kontext des Middle Grounds der „post frontier popular culture“ (Bender) mimetisch und medial befördert wurde. Tierbilderbücher, Teddybären und sogenannte „Indianer“-Spiele versetzten eine weiße, urbane und naturentfremdete Kindheit in ein kindgerechtes, naturnahes Milieu, in dem sich gleichermaßen eine Pädagogik des Natur- und Tierschutzes konsolidierte. Die von Freud um 1900 beschworene „infantile Wiederkehr des Totemismus“ wirft entsprechend nicht nur Fragen nach den siedler-kolonialen Implikationen und Kontinuitäten der medienästhetischen Milieus der Kindheit auf. So etwa nach den Virtualisierungen, Medialisierungen und Moralisierungen der Kind-Tier-Beziehungen und ihrer rekursiven Effekte, die im Projekt etwa mit Blick auf die Mobilisierung kindlicher Übergangsobjekte und Kuscheltiere im Kontext westlicher Tierrechts- und Klimaprotesten untersucht werden. Auch umgekehrt stellt sich die Frage nach den riskanten mimetischen Potentialen einer Dekolonisierung kindlicher Beziehungen, die sich nicht nur auf die frühen gegenethnographischen Versuche Charles Eastmans über mimetische Kinderspiele, sondern auch auf gegenwärtige Medienpraktiken und -politiken von First Nations bezieht, die die Wiederkehr kolonial verdrängter Beziehungen forcieren.

Vita

Stephan Zandt ist Post-Doc im DFG-Graduiertenkolleg Medienanthropologie der Bauhaus-Universität Weimar. Er studierte Kulturwissenschaft sowie vergleichende Kultur- und Religionswissenschaft (Europäische Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie sowie Vergleichende Religionswissenschaft) an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Philipps-Universität Marburg. Zwischen 2013 und 2017 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt A14 „Natur/Kultur. Transformationen einer mythischen Grenzziehung“ im Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“. Von 2018 bis 2021 sowie von 2022 bis 2023 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin sowie 2021 Research Fellow am IFK Wien. 2019 promovierte er mit einer Arbeit zur Kultivierung des Geschmacks und der Transformationsgeschichte der kulinarischen Sinnlichkeit. Zu seinen Forschungsinteressen gehören – immer mit Blick auf die Kontakte zwischen westlichen und nichtwestlichen Kulturen: Medienanthropologien der Kindheit, die Kulturgeschichte und Anthropologie des Sinnlichen, insbesondere des Kulinarischen sowie der taktilen Berührungen zwischen Haut und Pelz, kulturwissenschaftliche Ästhetik, Human Animal Studies und Plant Studies.

 

Publikationen

Monographien

Die Kultivierung des Geschmacks. Eine Transformationsgeschichte der kulinarischen Sinnlichkeit (Undisziplinierte Bücher 1), Berlin: De Gruyter 2019 (zugleich Dissertation)
- 2. Aufl. Broschur, Berlin: De Gruyter 2021

 

Zeitschriften

Ilinx. Zeitschrift für Berliner Kulturwissenschaft 5: „Brachen“. Hg. zus. mit Katja Kynast und Birgit Lettmann (im Erscheinen).

 

Sammelbände

Empfangen. Die Andere Seite der Gabe. Hg. zus. mit Beate Absalon, Nina Franz, Andreas Gehrlach, Sebastian Köthe, Antonio Lucci. (Erscheint 2023 bei DeGruyter)

Andere Ökologien. Transformationen von Mensch und Tier. Hg. zus. mit Iris Därmann München: Fink 2017.

Tiere Bilder Ökonomien. Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal-Studies. Hg. zus. mit Chimaira-Arbeitskreis für Human-Animal-Studies, Bielefeld: transcript 2013.

 

Editionen

Elisée Reclus: Staat, Fortschritt, Anarchie. Politische Schriften, hg. und eingeleitet von Andreas Gehrlach u. Stephan Zandt (Erscheint Herbst 2023 bei Matthes & Seitz Berlin).

Elisée Reclus: Die große Familie. Anthropologische und ökologische Schriften, hg. und eingeleitet von Andreas Gehrlach u. Stephan Zandt (Erscheint Frühjahr 2024 bei Matthes und Seitz Berlin).

 

Handbuchartikel

„Frucht“, in: Pflanzen. Kulturwissenschaftliches Handbuch, hg. von Isabel Kranz und Joela Jacobs, Stuttgart: J.B.Metzler (im Erscheinen.)

„Die Tiere der Mythologie“, in: Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch, hg. von Roland Borgards. Stuttgart: Metzler 2017, S. 271-280.

 

Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften

„The beautiful land gave you a practical foundation“. Schlaflied und dekoloniale Reterritorialisierung in Celina Kalluks Naglingnarniqpaakuluk“ in: Beata Absalon, Nina Franz, Andreas Gehrlach, Sebastian Köthe, Antonio Lucci und Stephan Zandt (Hg.): Empfangen. Die andere Seite der Gabe. Berlin: DeGruyter (erscheint Herbst 2023).

„»Where the Wild things are«. Das Kinderzimmer als Huis Clos und Bilderraum/»Where the Wild Things Are«. La chambre d’enfant comme huis clos et espace des images“, in: Regards croisés 12 (2022) S. 56—77.

„‘No Global Future‘ oder, Unter dem Pflaster: Desert“, in: Ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft 5: Brachen (erscheint 2023).

„Sprechende Tiere. Über Anthropomorphismus im Kinderbuch“, in: 1001. Das Magazin für Kinder- und Jugendliteratur 3 (2022), S. 7-9.

„Zwischen ‚Malampianismus‘ und ‚Neverland‘. Deckenhöhlen und der Kampf um die Intimitätsräume der Kindheit“, in: Selbstbehältnisse. Orte und Gegenstände der Aufbewahrung von Individualität, hg. von Laura Busse, Andreas Gehrlach, Waldemar Isak, Berlin: Neofelis 2021, S. 145-165.

„Zwischen Natur und Kultur und darüber hinaus. Überlegungen zu einer anderen Geschichte der Ethologie“ in: Ethology. Claims and Limits of a Lost Discipline, hg. von Andrea Allerkamp und Martin Roussel, München: Fink 2021, S. 193-218.

„,Die Thiere feiern den Vollmond‘!? Alexander von Humboldt und der Versuch, ‚Das nächtliche Thierleben im Urwalde‘ zu beschreiben“, in: Andere Ökologien. Transformationen von Mensch und Tier, hg. von Iris Därmann und Stephan Zandt, München: Fink 2017, S. 161-180.

„Neue Horizonte des Geschmacks. Exotische Genussmittel und sinnliche Aufklärung bei Georg Forster“, in: Weltreisen. Aufzeichnen, aufheben, weitergeben – Forster, Humboldt, Chamisso (Chamisso-Studien 2), hg. von Julian Drews u.a. Göttingen:Vandenhoeck & Rupprecht 2017, S. 125-135.

„Hunde, Gänse, Philosophen, oder eine neue Kunst des Versammelns“, in: Politische Tiere. Zoologie des Kollektiven, hg. von Martin Doll und Oliver Kohns. München: Fink 2017, S. 35-62.

„Animal Biographies – A few notes on the trail of ethology / Animal Biographies – Einige Skizzen/Notizen auf den Spuren der Ethologie“, in: we, animals. Artistic positions on human-animal relations /Künstlerische Positionen zu Mensch-Tier-Verhältnissen, hg. von Anne Hoelck. Berlin: MEINBLAU projektraum 2014, S. 48-53.

„‚Experimental Life‘ – Tier-Ökonomien im Alltag und in der Ethologie der Moderne“, in: Tiere Bilder Ökonomien. Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal-Studies, hrsg. von Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal-Studies. Bielefeld: transcript 2013, S. 137-160.

 

Rezensionen

„Charles King: Schule der Rebellen; Rosa Eidelpes: Entgrenzung der Mimesis; Irene Albers: Der diskrete Charme der Anthropologie“, in: Weimarer Beiträge 67, 3 (2021), S. 464-469.