Videomitschnitte der Tagung "Medienanthropologische Szenen", 7.-9. Juli 2016
Lorenz Engell und Christiane Voss: Einführung
Einführung in die "Medienanthropologischen Szenen".
Christine Blättler: Vom Szenenrand
Anthropozentrismuskritische Stoßrichtungen haben sich seit dem einst formulierten ‚Ende des Menschen’ verändert. Handelte es sich einst darum, mit einer Spitze gegen Humanismus für sich reklamierende Positionen die Menschen dezentrierenden strukturellen Veränderungen theoretisch entsprechend zu reflektieren, soll nun gerade umgekehrt im Zeichen ökologischer Überlegungen einer vorausgesetzten menschlichen Verfügungsgewalt Einhalt geboten werden. Der Vortrag geht vom common sense der gegenwärtigen Kritik aus und fragt mit Christiane Voss danach, warum denn Anthropozentrismus überhaupt vermieden werden soll.
Rainer Leschke: Die mediale Vorsehung des Menschen. Oder: Der Mensch ist auch bloß eine Form
Dass ein anthropologischer Impuls zur Grundausstattung ‚kleiner‘ Philosophien wie der Ästhetik, der Technikphilosophie und eben der Medienphilosophie gehört, ist einigermaßen evident: Die Ideen vom medial aufgerüsteten Menschen oder wenigstens seiner entscheidenden Teile durchziehen genauso gut euphorische wie apokalyptische medienwissenschaftliche Spekulationen. Doch ebenso schnell, wie er entstanden ist, verflüchtigt sich dieser spekulative Überschuss auch wieder. Insofern stellt sich nach derartigen epistemologischen Episoden die Frage, ob anthropologische Reflexionen auch nach dem Versiegen solcher spekulativen Phantasien noch einen systematischen Ort in der Medienwissenschaft behaupten können.
Johanna Seifert: Technikkörper – Körpertechniken. Überlegungen zum neurotechnischen Eingriff in den menschlichen Körper
Ausgehend von der Annahme eines Paradigmenwechsels in der Prothetik untersucht der Beitrag gegenwärtige Neuroprothesen auf ihr anthropogenerisches Potential. Während Technologien wie Fitness Tracker, Smartwatches und Google-Brille sich dem Körper anschmiegen, aber noch außerhalb der Haut als somatisch-materielle Körpergrenze bleiben, wird diese von Neuroprothesen durchbrochen. Daher eignen sich Neuroprothesen in besonderer Weise dazu, die Verschränkung von Körper und Technik bzw. die reziproke Hervorbringung von Mensch und Technik zu untersuchen.
Leander Scholz: Politische Biomimesis im 19. Jahrhundert
Bereits in der Antike wurden politische Gemeinwesen als Lebewesen verstanden, die organisch gegliedert sind. Aber erst seit dem 18. Jahrhundert werden im Rahmen von Klimatheorien die Umweltbeziehungen dieser Lebewesen ins Zentrum geopolitischer Überlegungen gestellt. Dabei geht es nicht allein um das Verhältnis zu anderen politischen Gemeinwesen, sondern um den ökologischen Stoffwechsel insgesamt, der die menschlichen Gemeinschaften in einer lebensweltlichen Kontinuität mit anderen Lebewesen erscheinen lässt. Der Vortrag will drei zentrale anthropologische Szenen aus dem Bereich der Biogeographie und der Anthropogeographie des 19. Jahrhunderts vorstellen.
Eva Schürmann: Was geschah in Marienbad? Raumfluchten und Zeitsprünge von Gedächtnis und Imagination
In einem imaginären Badeort Mitteleuropas treffen ein Mann und eine Frau auf die narrativen Versatzstücke fragmentarischer Erinnerungen, die Drehbuchautor Alain Robbe-Grillet und Regisseur Alain Resnais in L‘année dernière à Marienbad zu asemantischen Schreibszenen anordnen.
Nicolas Oxen: Das sensorische Bild. Instabile Wahrnehmungsrelationen im Kino von Philippe Grandrieux
Das Kino des französischen Filmemachers Philippe Grandrieux produziert prekäre Menschenbilder. Die Körper der Figuren werden durch extreme Großaufnahmen fragmentiert, verlieren ihre Konturen und lösen sich im Bild auf. Gesichter verschwimmen in Unschärfen oder werden durch eine Wärmebildkamera zu amorphen Fratzen verzerrt. Mit Hilfe des Begriff des „Sensorischen“ und mit Rückgriff auf Alfred North Whiteheads Konzeption eines „vagen Empfindens“ möchte dieser Beitrag versuchen, solche instabilen Bildformen als eine unsichere Zone des Kontakts zwischen menschlichen und technischen Wahrnehmungsweisen zu beschreiben.
Philipp Stoellger: Göttliche Szenarien. Oder: Wenn einem Gott eine Szene macht
Die jüdisch-christliche Medientheorie führt ihre medialen Urszenen meist verschoben und verdichtet vor Augen: in Gottesbegegnungen. Beim Namen gerufen werden, ein brennender Busch, Rauch und Feuer, Glanz und Gewitter oder vom Pferd zu fallen sind seltsame Begebenheiten - in denen Gott eine Szene macht. Die Ladung solcher Szenen liegt weniger in den medialen Materialitäten und Praktiken, die zwischen banal und skurril oszillieren. Es geht offenbar weniger Form oder Inhalt als um Kontrastmedien (kontrastiv gegenüber alltägliche oder fremdreligiöse Medienpraktiken). Die fromme Wette darauf zeigt sich im Zeugnis davon, dass es Transzendenzmedien seien, in denen sich Medientranszendenz ereignet. Gibt’s das und wenn ja, zu welchem Ende?
Martin Siegler: ›Who is the third who always walks beside you?‹ . Der Third Man-Faktor und die Verschiebung des Menschlichen
Menschen, die lebensgefährlichen Situationen nur knapp entronnen sind, berichten immer wieder von hilfsbereiten Wesen, die ihnen zur Seite gestanden hätten. Gilt dieser „Third-Man“ den einen als Beleg für Schutzengel, deuten ihn andere als neuronale Stressreaktion. Wenn jedoch ‚der Mensch‘ ohnehin nur als ‚Dritter‘ existiert – als anthropomediale Verschränkung – wäre der „Third Man“ als eine situative Verschiebung des Menschlichen neu zu beschreiben.
Ivo Ritzer: Sahara Blues. Zur Auditivität medienanthropologischer Szenen zwischen Oralität und Aufschreibesystemen
Der Vortrag problematisiert quer zu herkömmlichen Ansätzen eurozentrischer Medienphilosophie die evolutionsteleologische Marginalisierung oraler Traditionen, welche sich besonders eklatant in der kolonialen Glorifizierung von Schriftlichkeit zeigt. Demgegenüber wird der Vortrag am Beispiel des kontemporären Blues in der Sahara den Blick auf Praktiken auditiver Medienkulturen richten, die durch alternative Formen von Kollektivität wie auch konstellativ-dynamische Prozesse medialer Appropriation charakterisiert sind.
Astrid Deuber-Mankowsky: Medienanthropologie und New Materialisms
Medienanthropologie kann sich auf das Verhältnis von Medien und Wissen des Menschen beziehen, sie kann aber auch das Verhältnis von Medien und Denken der menschlichen Existenz meinen. Ganz anders die Theorien, die sich unter dem Begriff des New Materialism verbinden: Sie fokussieren Praktiken, die als Werdensprozesse die Differenzen zwischen Wissen und Materie, zwischen Medien und Menschen und zwischen Biologischem und Physikalischem unter einem weit gefassten Begriff des Lebendigen aufzuheben versuchen. Gibt es zwischen beiden Ansätzen eine Brücke? Oder schließen sie sich ganz einfach aus?
Reinhold Görling: Psychoanalyse als Medienanthropologie
Reinhold Görling: Psychoanalyse als Medienanthropologie
Von einem szenischen (und nicht objekttheoretischen) Verständnis der Psychoanalyse her gesehen sind Medien dem Subjekt „gleichursprünglich“, so wie es etwa Laplanche/Pontalis für die Phantasie herausgearbeitet haben. Sie bezeichnen das Subjekt nicht, aber sie binden es ein in eine Kommunikation und ermöglichen überhaupt erst seine Gegenwärtigkeit.
Julian Jochmaring: Streuen/Strahlen. Merleau-Pontys situative Anthropologie
In der gegenwärtigen Debatte um Denkfiguren des Verteilten und Gestreuten, um Koexistenzialitäten, Netzwerke, Ökologien und Relationalitäten bleiben phänomenologische Positionen weitgehend marginal. Im Vortrag werden zunächst mögliche Gründe dieser Marginalisierung thematisiert, um anschließend Merleau-Pontys Denken des Situationalen und Umgebenden ins Spiel zu bringen. Dabei lässt sich zeigen, wie Merleau-Ponty in Auseinandersetzung mit der Umweltlehre Uexkülls als auch dank seines in den 1950er Jahren zunehmenden Interesses für die Künste ein Verständnis des nichthumanen Außen entwickelt, das von erstaunlicher Aktualität für medienanthropologische Fragestellungen ist.