Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hg.)
diaphanes, Zürich, Berlin, 2003
271 S., zahlreiche Abbildungen
Beschreibung
Eine Grundregel unserer Schriftkultur besagt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, daß ein Autor immer anderes und immer mehr ist als ein bloßer Schreiber. Diese Regel hat Werke und Schulen, Texte und Kommentare hervorgebracht. Und diese Regel hat vergessen gemacht, was stets den Boden dieser repräsentativen Kulturarbeit bereitet: ein unaufhörliches Aufschreiben, Abschreiben, Verzeichnen, Registrieren und Archivieren. Ausgehend von einer Überlegung dieser Art geht es im vorliegenden Band um eine eher verborgene und apokryphe ‘Kultur der Sekretäre’ – um eine Kultur, die in die Namenlosigkeit von Diskursen und in die Anonymität von institutionellen und bürokratischen Verarbeitungtechniken zurückführt.
Eine europäische Kultur der Sekretäre wird dabei historisch und thematisch im weitesten Sinne begriffen. Sie schließt den apostolischen Auftrag als Sekretariat göttlichen Worts ebenso ein wie die graue Arbeit der Kanzlisten im Dienste eines abendländischen Gerichtswesens; sie reicht von den Archivaren und Bibliothekaren der neuzeitlichen Gedächtnisbürokratie bis hin zum Stand der Sekretärin im modernen Büro; sie wird von der unermüdlichen Arbeit mittelalterlicher Kopisten ebenso geprägt wie von der neueren Machtfigur des General- und Parteisekretärs; und sie arbeitet – wie Goethes Eckermann – an der Fabrikation literarischer Autoren und Werke ebenso, wie sie – in Melvilles Bartleby zum Beispiel oder in Kafkas Texten – selbst zum Thema und Modell von Literatur geworden ist. Indem der Band all diese Fälle und Sekretäre thematisiert, erinnert er an die grundsätzliche Fremdheit aller Diskurse. Die Gestalt des Sekretärs wird so formal als Schaltstelle begriffen, als ein Ort, an dem aufscheinen kann, daß die autorisierten Formen des Befehls und der Rechtsprechung, der Wahrheitsrede und der Kunst Verarbeitungen einer Rede sind, die grundsätzlich von einem Anderen her spricht. Als ein Relais, das von Reden nur durchquert wird, anstatt ihr Ursprung zu sein, erlaubt die Figur des Sekretärs daher ganz allgemein, eine Kultur der Namen und Taten unter den Voraussetzungen einer allgemeinen Medienwissenschaft zu rekonstruieren.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Schauplatz der Macht
Jan-Dirk Müller: Archiv und Monument. Die Kultur der Sekretäre um 1500
Horst Wenzel: Sekretäre — heimlîchaere. Der Schauraum öffentlicher Repräsentation und die Verwaltung des Geheimen
Nicolas Schapira: Sekretäre des Königs. Die Gelehrten und die Macht im Frankreich des 17. Jahrhunderts
Walten, Verwalten
Bernhard Siegert: Perpetual Doomsday
Rüdiger Campe: Barocke Formulare
Joseph Vogl: Leibniz, Kameralist
Uwe Jochum: Goethes Bibliotheksökonomie
Sekretärspoetik
Ethel Matala de Mazza: Angestelltenverhältnisse. Sekretäre und ihre Literatur
Manfred Schneider: Leporellos Amt. Das Sekretariat der Sekrete
Ulrike Sprenger: Fräuein Sekretär: Prousts Schreiber
Sabine Mainberger: Schreibtischporträts. Zu Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge
Schreibzeug
Gloria Meynen: Routen und Routinen
Wolfgang Schäffner: Mechanische Schreiber. Jules Etienne Mareys Aufzeichungsmaschinen
Claus Pias: Digitale Sekretäre: 1968, 1978, 1998
Wolfgang Ernst: Sekretärinnen ohne Chef. (Mnemosyne, Klio, Schreibmaschinen)