Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften

Bernhard Siegert
Brinkmann & Bose, Berlin, 2003
622 S., zahlreiche Abbildungen

Beschreibung

Nicht die zukünftigen Schicksale der digitalen Medien sind Sache dieses Buches. Ihm geht es nicht um die Figur eines Endes oder gar einer Vollendung, sondern um die spezifische Figur des Anfangens, die dem Erscheinen der elektrischen (elektromagnetischen, elektronischen) Medien eigen ist. Es geht darum, den Anfang der elektrischen Medien zu denken einerseits als einen historischen Anfang, andererseits als einen ursprungslosen, das heißt gegenüber dem Moment eines Ursprungs permanent verschobenen Anfang. Wie könnte die Figur eines solchen Anfangs aussehen oder auch nur gedacht werden? Wie erfragt man das spezifische epistemologische Ereignis, durch das die verschiedenen Entstehungsgeschichten von “Erfindungen” überhaupt erst möglich wurden? Um auf diesen Weg zu gelangen, muß man nach dem Typ der Zeichen fragen, die in Mediensystemen zu Repräsentationen genutzt werden, muß man also nach der Freisetzung einer Graphie des Signals in der Geschichte der Wissenschaften fragen. Diese Frage rückt ein Untersuchungsgebiet ins Blickfeld, auf das sowohl die Experimentalwissenschaften, als auch die Mathematik und die Medien übergreifen, ohne es jedoch vollständig abzudecken. Es ist das Feld der Zeichenpraktiken.

Eine endlose Praxis des Schreibens begleitet die abendländischen Wissenschaften seit ihren Anfängen, begleitet sie in immer neuen Anläufen als vielfältige Grenze und als ihr Außen. Angefangen von den geraden und krummen Linien, die Finger in Sand oder Staub zeichneten, bis zu den unendlich detaillierten Protokollen, die Robert Boyle über seine Luftpumpenversuche anfertigte, von den kosmographischen Beschreibungen fremder Welten im Zeitalter der Entdeckungen bis zu den analogen Selbstaufzeichnungen der Natur durch die Apparate der “graphischen Metode”, von der Photographie, Phonographie und Kinematograpie zu den digitalen Kammern, in denen Alpha- und andere Teilchen sich selbst zählen. Eine ununterbrochene Schreibarbeit kehrt den Wissenschaften in Form von Notationssystemen, Datenverarbeitungssystemen und der materialen Organisation des Wissens das Bild ihrer äußeren Erscheinung zu.

Wenn in diesem Buch oftmals mathematische Zeichenpraktiken im Mittelpunkt stehen, dann heißt das nicht, daß der Mathematik damit die Rolle einer “ersten” oder “reinen” Wissenschaft zugeschrieben wird. Als eine symbolische Aktivität, deren Ergebnisse wiederum aus symbolischen Gebilden bestehen und die in hohem Maße sich selbst und die Art ihrer Symbole reflektiert hat, ist sie jedoch ein privilegiertes Feld für die vergleichende Untersuchung historischer Zeichentypen auf der Grundlage empirischer Zeichenpraktiken und ihrer “material culture”. Überdies widerspricht eine solche Betrachtungsweise massiv dem platonischen oder intuitionistischen Standardkonzept, das in weiten Teilen der Mathematik Gültigkeit besitzt und demzufolge die Gegenstände der Mathematik ideale und transkulturelle Objekte sind, die in jedem Fall – ob nun im Realen oder im Imaginären existierend – keinerlei materiale Dimension besitzen, da sie entweder dem Reich der Ideen oder der transzendentalen Anschauung angehören. Mathematische Symbole sind dementsprechend abstrakte und allgemeine Formen, deren materiale gegebene Einschreibung bloß ein abgeleitetes Supplement darstellt. Weil der grundsätzlich ahistorische und transkulturelle Charakter ihrer idealen Objekte am logozentrischen Symbolbegriff hängt, “mathematics would presumably be the last to reveal itself and declare its origins in writing.” (Brian Rotman)
Um Mathematik als Zeichenpraxis zu analysieren, ist daher eine Dekonstruktion des mathematischen Symbolbegriffs vonnöten. Aus diesem Grunde läßt sich die in diesem Buch unternommene Arbeit teilweise als historische Grammatologie der neuzeitlichen Wissenschaften charakterisieren. Aus der Perspektive einer historischen Grammatologie sind Zeichenpraktiken nicht im linguistischen Begriff einer alphabetischen Schrift fundiert, die dazu dient, eine gesprochene Sprache aufzuzeichnen. Die Zeichenpraktiken, die hier ins Auge gefaßt werden, haben es durchweg mit jenem Bereich der graphé zu tun, der über den Begriff der Sprache hinausgeht: Listen, Tabellen, kartographische Koordinatensysteme, mathematische Notationssysteme sowie die im Realen von technischen Medien implementierte Graphie sich selbst aufschreibender Ereignisse – sich selbst aufzeichnende Funken, Projektile und Schwingungsereignisse – bis hin zur digitalen Registratur von Impulsen in elektronischen Speicherzellen. All diese Schriften lassen sich im Unterschied zum Begriff der phonetischen Schrift unter den Begriff einer diagrammatischen Schrift subsumieren.

Der Begriff der Zeichenpraktik impliziert jedoch, daß das, was Signifikanten leisten, bedeuten und sein können, abhängig ist von einer zeichenproduzierenden und -transformierenden Aktivität. Die Grenzen der Operationalität wissenschaftlicher Symbolpraxis werden durch Aufschreibesysteme – das heißt Medien, Codes, Politiken und Diskurse – bestimmt, die ein je und je besonderes Dispositiv des Wissens definieren. Um die Figur des Anfangens der elektrischen Medien sichtbar zu machen, ist folglich ein doppeltes Unternehmen notwendig: zum einen eine historische Grammatologie der neuzeitlichen Wissenschaften, zum anderen eine Archäologie der Medien. Beide Projekte sind unauflöslich ineinander verschränkt, sie können nur gemeinsam, nicht nacheinander betrieben werden. Die historische Grammatologie benötigt eine Archäologie der Medien, die die Analyse von Signifikantenstrukturen in den Materialitäten der Kommunikation, dem Verbund von Instrumenten, Agenten und Medien fundiert, ohne den die historische Grammatologie ein philosophiegeschichtliches Unternehmen bliebe. Umgekehrt bliebe die Archäologie der Medien ein positivistisches Sammeln von historischen Fakten, wenn sie nicht von der Frage nach ihrem Zusammenhang mit dem Schicksal einer Schrift, die nicht mehr aus einem Logos und nicht mehr aus der Logik der Repräsentation stammt, in Anspruch genommen würde.

Der Begriff der “neuzeitlichen Wissenschaften” bezieht sich in diesem Buch auf das Erscheinen der neuzeitlichen Analysis als universale Wissensordnung (die den Wissenschaften von der Philosophie bis zur Experimentalphysik ihre Aussageregeln vorgibt) und als reale Praxis der Datenspeicherung und -verarbeitung.
Die Frage nach der Freisetzung einer Graphie des Signals und der elektrischen Medien in der Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaften zielt jedoch nicht darauf, in der Geschichte der Analysis die Befreiung der Vernunft/der Schrift zu sich selbst zu erkennen, sondern eine zwischen dem Ende des 16. und dem Ende des 18. Jahrhunderts das abendländische Wissen formierende symbolische Operation, Gegenstände zu erzeugen, zu klassifizieren und ihre Wahrheit zu sagen.
Es ist der Riß einer im Denken der Repräsentation verwurzelten Ordnung der Schrift, der die Passage des Digitalen freisetzt und den Raum der technischen Medien eröffnet. Die elektrischen Medien basieren auf dem, was ein Vertreter der klassischen Leibniz-Wolffschen Analysis das “Nichtanalytische” genannt hätte, das Nichtberechenbare, Nichtdarstellbare, die Grenzen des Kalküls Überschreitende. Das moderne Analytische, das heißt die Analysis seit Euler, ist ein deterritorialisiertes Analytisches. War die Geschichte der Analyse von ihren verschatteten frühmodernen Anfängen bis zu Leibniz und seinen Schülern im 18. Jahrhundert geprägt von der Vorstellung einer Totalbeschreibung der Dinge, einer Großen Bürokratie, die unter dem Gesetz der Kontinuität stand, so ist die Analyse nach Euler und besonders nach Fourier und Cauchy ein Unternehmen, das seine Produktivität aus seiner unaufhörlichen Selbstdekonstruktion bezieht. Darstellbarkeit ist nun nicht mehr eine transzendentale, unbefragbare Voraussetzung der Analyse, sondern etwas, dessen Existenz die Analyse allererst und bevor ihr eigentliches Geschäft beginnt beweisen muß.

Natürlich hört das Schreiben nicht auf nach dem Ende der Großen Bürokratie – im Gegenteil, es wird in vielerlei Weise entfesselt: Tönende Glasscheiben lassen einen schriftlichen Charakter des Tons, den sie erzeugen, im Sand hervortreten, mit dem sie bestreut sind, zuckende Froschschenkel markieren die Spuren der Latenzzeit ihrer Kontraktion auf Papiertrommeln, verdampfende Kupferdrähte schreiben sich auf Papierbahnen ein, Licht schreibt sich in lichtempfindliche Emulsionen, Töne in Wachszylinder ein, Schwingungssysteme werden so geschaltet, daß sie in bistabilen Zuständen verharren, die irgendwelche Ereignisse in einem binären Alphabet registrieren können und so weiter.

Allein, es ist der Riß der transzendentalen Einheit von Schrieb und Natur, der die Passage des Digitalen entriegelte, durch die es elektrische Medien gibt. Die Graphismen des Signals – willkürliche Funktionen, oszillierende Reihen, Rechteck- und Sägzahnkurven, digitale Operatoren – erschienen als Effekte einer deterritorialisierten Zeichenpraxis. Wie ein unterirdischer Fluß durch einen Riß in den Fundamenten eines Berges an die Oberfläche tritt, trat in dem halben Jahrhundert zwischen Euler und Fourier eine Drift des Nicht-Repräsentierbaren ins Offene, dessen Formalisierungen die Artikulation der Differenz von make and break, Ab- und Anwesenheit, Fort und Da als das charakteristische Merkmal der elektrischen Medien offenbaren. Die technischen Medien sind gegründet im Entzug des Grundes. Nicht das Denken der Repräsentation ist in ihren technischen Ensembles am Werk, sondern die Deterritorialisierung der Elemente der Repräsentationsordnung, die Freisetzung einer schlechten Unendlichkeit, der endlosen Verkettung von Plus und Minus, Null und Eins, Negativ und Positiv, Elektrizität und Magnetismus. Das Ende der klassischen Repräsentation birgt den Anfang der elektrischen Medien.
Aus dem Elementarraum des Meeres ist der Elementarraum des Digitalen und der Medien geworden. Walten (das “Walten des Seienden im Ganzen”, wie Heidegger das griechische physis übersetzte) und Schalten werden dasselbe. Der Mensch ist ein Landtier, stellte Carl Schmitt einmal fest. Das stimmt. Aber ein im Symbolischen radikal vom Grund losgemachtes (oder grundlos gemachtes) Landtier. Wir sind alle Fliegende Holländer.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. September 2003, Nr. 208, S. 37:
Christoph Albrecht, So macht Medientheorie Laune

Süddeutsche Zeitung, 29. Oktober 2003,
Manfred Schneider, Tanz auf dem Flip-Flop-Kippschalter