Beschreibung
Bernhard Siegerts Relais schließt eine Lücke im Bereich der Mediengeschichte und Medientheorie. Das Buch demonstriert die grundsätzliche Hintergehbarkeit von Literatur in Bezug auf ihre medialen Bedingungen – und damit zugleich die Hintergehbarkeit traditioneller Literaturanalyse durch Medienanalysen. Indem herkömmliche Ansätze mediengeschichtlich orientierter Literaturwissenschaft allein den Buchdruck thematisiert haben, und auch hier meist nur Fragen des Marktes, der Leserschaft etc. im Auge hatten, blieb ausgeblendet, daß die Legitimationsverfahren, durch welche Dichtung zu einer Wahrheitsrede und der Dichter zur Autorität eines Wissens wird, wesentlich Übertragungsprozesse und Vernetzungen sind. Überdies wird auch Literatur in Gestalt gedruckter Bücher nur in einer Logik der Übertragung wirksam, insofern sie erst durch bestimmte Weisen der Leser(innen)adressierung ihre Macht entfaltet. Doch sind solche Adressierungstechniken weder autonom literarisch noch ahistorisch. Übertragungsmedien auf ihrem jeweiligen historischen Stand sind vielmehr ihre Voraussetzung. Das ist der Grund, warum das Buch Siegerts die Geschichte der Literatur im angegebenen Zeitraum auf eine Geschichte der Post abzubilden unternimmt. Die Abbildungsrelation macht die Geschichte der Literatur zu Geschicken. Folglich ergibt sich die Notwendigkeit, die Rede der Literatur ausgehend von einer Geschichte des Briefverkehrs, seinen Regeln und seinen technischen Bedingungen, zu untersuchen.
Neben einer Neuschreibung der Literaturgeschichte zwischen Gellert und Kafka als Epoche der Post, ist das Buch Siegerts aufgrund seines Materialreichtums und seiner im Mittelteil geleisteten Darstellung der Nachrichtensysteme des 19. Jahrhunderts auch als Nachschlagewerk zur Geschichte der Übertragungsmedien im 19. Jahrhundert zu verwenden und zu empfehlen.
Da Literatur gemeinhin in Büchern vorliegt, läge es nahe ins Zentrum der Medienanalyse Speichermedien wie das Buch und die Technologien seiner Reproduktion wie den Buchdruck etc. zu rücken. Auf diese Weise sind in der Tat die Arbeiten von Marshall McLuhan, Walter J. Ong und Elisabeth Eisenstein zum Buchdruck verfahren. Unbefragt wurde damit jedoch die Perspektive einer institutionalisierten Wissenschaft übernommen, die es fast ausschließlich mit Büchern als Speichern von Wissen zu tun hat. Klassisches Beispiel eines solchen Übertragung implizierenden Legitimationsaktes ist der Musenanruf, durch den das Geschriebene sich als ein vom Ort der Wahrheit Zugesprochenes ausweist. Als technisches System setzt dasselbe Verfahren jedoch empirische Frauen und konkrete Übertragungssysteme voraus. Eine offensichtliche Markierung dieser Übertragungsdimension von Literatur ist etwa die Widmung.
Die von den hochtechnischen Medien aufgeworfene Frage nach dem Ende der Kunst ist jedoch unabtrennbar von der Frage nach dem Menschen, insofern Kunst notwendigerweise den Begriff des Werks, Menschenwerks, impliziert. Wenn literarische Werke in Übertragungsprozesse eingebunden sind und diese von den historischen Übertragungstechnologien und ihrer Logik bestimmt sind, folgt daraus, daß die Frage nach dem Ende der Kunst die Frage nach dem Anfang von “Menschenverkehr” voraussetzt.
Aus diesem Grund wird jene verwunderte Frage, die Franz Kafka zum Ende seines Lebens in einem seiner letzten Briefe an eine Frau stellte, nämlich wie man nur auf den Gedanken habe verfallen können, “daß Menschen durch Briefe mit einander verkehren können”, zur Leitfrage der Arbeit. Sie versucht eine Antwort auf diese Frage zu finden und damit die Möglichkeit des Verkehrs von Menschen mit Briefen historisch zu datieren. Die Frage war für einen Autor wie Kafka deshalb so drängend, weil Literatur – im emphatischen Sinne der Klassik und Romantik – seit dem 18. Jahrhundert ihre Legitimation als Wahrheitsrede in Übertragungsprozessen und Verkehrsanstalten fand. Dichtung – sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption – wurde zum Verkehr von Seelen. Als Verkehrsmittel kam nur eines in Frage: Vom 17. bis ins 19. Jahrhundert fiel Übertragung von Sachen, Personen und Nachrichten – d. h. Übertragung überhaupt – in die unumschränkte Kompetenz der Post. Daher kann für das Jahrhundert von ca. 1750 bis 1850 von einer Literatur inhärenten Postalität gesprochen werden oder von einer Epoche der Post namens Literatur. Anfang und Ende dieser kurzen Epoche zu beschreiben, ist das inhaltliche Vorhaben des Buches.
Der Leipziger Rhetorikprofessor Christian Fürchtegott Gellert etablierte Mitte des 18. Jahrhunderts ein neues System des Schriftverkehrs, das von der Fundamentalisierung der Geschlechterdifferenz organisiert wurde. Kommunikation wurde prinzipiell sexualisiert und folglich intimisiert. Briefe schreiben hieß seitdem nicht mehr, rhetorische Regeln korrekt anzuwenden, sondern ein intimes Wissen zu verraten. Mit dem Namen Gellert ist die Erfindung des Privatbriefs verbunden. Die desexualisierten Formen des Schriftverkehrs wie Drucksachen und Postkarten werden folgerichtig ein Jahrhundert später auch das Schicksal des Privatbriefs besiegeln.
Voraussetzung für diesen Schwenk in der Auffassungs- und Funktionsweise von Briefen liegt in der “Erfindung” des Portos, auf dessen Basis die territorialstaatlichen Postsysteme des 17. Jahrhunderts entstanden sind und das dem Gedanken zugrundeliegt, “daß Menschen durch Briefe miteinander verkehren können.” Mit der Entpolitisierung des Portos im 18. Jahrhundert, die den Briefverkehr unter Menschen von seinem Ursprung, dem Staat, abkoppelt, wurde schließlich die Voraussetzung für die Verwandlung des Briefverkehrs in das “natürliche” Ausdrucksmittel der menschlichen Seele schlechthin geschaffen, auf dessen Basis die Epoche der Post namens Literatur anbrechen konnte.
Mit Goethe wird die von seinem Leipziger Lehrer Gellert in Gang gebrachte Neuorganisation des Schriftverkehrs auf der Basis der Geschlechterdifferenz als System brieflicher Interpretation von Mädchen- und Frauenhandschrift zur Logistik von Dichtung. Im Zentrum dieses Abschnitts steht eine Trouvaille, die die Postalität von Literatur schlaglichtartig beleuchtet: nämlich das Faktum, daß Goethe von Fürst Karl Alexander von Thurn und Taxis das Privileg erhielt, Privatbriefe, die er in seiner Eigenschaft als Autor und “Ideal des Menschentums” schrieb, portofrei zu verschicken. Was nach den Regeln von 1806, nach denen gewöhnlich der Empfänger das Porto bezahlte, hieß, daß jedermann und vor allem jede Frau dem Autor ein Verstehen seiner Werke bzw. ein Verliebtsein in dessen Schöpfer kostenlos rückkoppeln konnte. Goethes Briefwechsel mit Bettina Brentano, deren Briefe Goethe in Sonette übersetzte, ist ein Effekt dieser Einladung zum Briefverkehr mit dem Urbild des Menschentums durch Thurn und Taxis. Das postalische Geheimnis von Literatur um 1800 bestand in der Übersetzbarkeit von Privatbriefen in Drucksachen namens Werke und umgekehrt in der Übersetzbarkeit nämlicher Werke in die Funktion privater Liebesbriefe. In ihrer ganzen medientechnischen Klarheit offenbart sich die postalische Logistik und Adressierungslogik von Dichtung um 1800 schließlich in den Briefen von Kleist an Wilhelmine von Zenge.
Der zweite, vorwiegend historische Teil der Arbeit beschreibt die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, die zum Ende jener Epoche der Post geführt haben, in der Menschen durch Briefe miteinander verkehren und literarische Werke ihre Grundlagen in solchem Verkehr haben konnten. Zu Beginn dieser Geschichte der Entstehung der modernen Post wird zunächst Rowland Hills Post Office Reform von 1840 beschrieben: die Durchsetzung des Einheitsportos und die Erfindung der Briefmarke als fundamentale Ordnungsprinzipien von Schriftverkehr überhaupt, die die Briefschrift einer technischen Standards (dem Tempo der Rotationspressen) verpflichteten Medienökonomie unterwerfen. Daran schließt sich die weltweite Durchsetzung der Hill’schen Reform, die schließlich in der Gründung des Weltpostvereins 1874 endet. In diesem historischen Kontext markiert Gottfried Kellers Novelle “Die mißbrauchten Liebesbriefe”, als erster literarischer Text, der die Briefmarke erwähnt, das Ende der Literatur als einer Epoche der Post. War Goethes Portoprivileg eine Einladung, in Liebe zu einem Dichter und dessen Drucksachen zu entbrennen, so ist die Briefmarke, die alle Sendungen als potentielle Drucksachen behandelt, Einladung zum Mißbrauch von Liebesbriefen. Die Erfindung der Postkarte, jenes von Heinrich Stephan 1865 vorgeschlagenen und im Krieg 1870/71 als Massenmedium durchgesetzten Nachrichtenträgers, führt schließlich das endgültige Ende des klassisch-romantischen Briefverkehrs herbei. Postkarten, denen das Briefgeheimnis abgeht, verraten keine Intimitäten mehr. Da die Postkarte aus der Drucksache hervorgegangen ist, haben ihre handschriftlichen Texte von vornherein den Status von Publikationen, deren Text stilistisch dem Ideal des militärischen Telegramms verpflichtet ist. Mit der Postkarte hört das Individuum im Postalischen auf zu existieren: an seine Stelle treten mediengerechte Standardformate: der Abmessung, des Portos, des Inhalts. Mit der Ansichtspostkarte wird schließlich auch noch das Erinnerungsbild auf Standardformate gebracht. Immer schon massenhaft reproduziert, ist das, was Ansichtskarten bezeichnen, fiktiv.
Die letzten Kapitel des zweiten Teils behandeln die von den technischen Medien Telegraphie und Telephonie hervorgebrachten Veränderungen im System der Literatur. Im einen wird die Entstehung der elektrischen Telegraphie bis zur Geomedienpolitik des britischen Empires aus dem Geist und den personalen Verflechtungen der deutschen Romantik beschrieben, im anderen vor allem die Besetzung und Professionalisierung der schon in der Erfindungsgeschichte des Telephons vorgezeichneten neuen Sprecherinstanz des operators durch Abertausende von Frauen. Die Stimme wird zum technogenen Objekt, das Frauen einerseits ins Kommunikationssystem als Akteure einschließt und andererseits dem Schriftmedium Literatur als todbringender Sirenengesang wiederkehrt.
Der dritte und letzte Teil der Arbeit zeigt anhand der Briefe Franz Kafkas an die Stenotypistin Felice Bauer, wie die postalische Logistik von Liebe und Autorschaft im Zeitalter moderner Post und technischer Medien läuft. Sie läuft als Nervenkrieg, in dem Post ein strategisches Mittel zur Verhinderung von Kommunikation wird, um einen rein autoreferentiellen Briefstrom in seiner Materialität freizusetzen und eine Begegnung der beiden Körper möglichst auszuschließen. Unter den Bedingungen und auf der Basis des im zweiten Teil in seiner historischen Entwicklung analysierten Postsystems, das im Jahr 1912/13 einen Grad der Leistungsfähigkeit und Ausdifferenzierung erreicht, der in der Postgeschichte einmalig gewesen sein wird, läuft ein mit allen übertragungstechnischen Mitteln geführter Kampf um die Rekonstruktion einer Autorschaft, dessen Strategie der Durchkreuzung von Kommunikation im Detail analysiert wird.
Den Abschluß der Arbeit bildet schließlich eine Analyse der Analogmedien als Grund und Abgrund des Schriftverkehrs um 1900 und – über Kafka hinausgehend – ein Ausblick auf die seit dem Zweiten Weltkrieg laufende allgemeine Digitalisierung von Übertragung. Mit der zu kryptographischen Zwecken in den Bell Labs entwickelten Pulse Code Modulation, die in naher Zukunft mit der Einführung von ISDN zum Standard von Übertragung überhaupt werden wird, wird Übertragung institutionell als eigenständige Größe obsolet. Damit kommt eine Geschichte der Post als Institution von Übertragung zu ihrem Ende.