Im vergangenen Wintersemester wurde Dr. Jörg Paulus auf die Professur »Archiv- und Literaturforschung« berufen. Der studierte Germanist und Philosoph wurde 1998 in Berlin promoviert und hat seitdem in Weimar, Potsdam, Wolfenbüttel, Braunschweig, Tokio, Breslau und Würzburg gelehrt und geforscht. Wir haben mit ihm über Archivpraxis, Lehrinhalte in Weimar und den »Genius Loci« gesprochen.
»Wer das Archiv begreifen will, muss es erfahren«, sagt Prof. Dr. Jörg Paulus und lässt damit gleichermaßen erahnen, was Studierende in seinen Seminaren und Vorlesungen erwarten können. Paulus will die Studierenden deshalb in seinen Seminaren umfänglich auf die Kulturtechniken des Archivs vorbereiten. Und dazu gehört auch, die spezifischen Rituale des Archivs zu verstehen. »Man muss beispielsweise zunächst einmal Klingeln, um überhaupt hinein zu kommen. Das unterscheidet das Archiv bereits von Bibliotheken. Dann muss man sich anmelden und eine Berechtigung nachweisen – kann also nicht einfach ein bisschen ‚Stöbern‘«, erklärt Paulus zu den Grundregeln archivarischer Nutzung. Dazu kommen auch die berühmten weißen Handschuhe, die bei besonders kostbaren Manuskripten Pflicht sind. Und es gibt natürlich auch absolute Tabus: »Auf keinen Fall sollte man einen Füller mitbringen. Wenn der Archivar einen Füller sieht, wird er sofort nervös. Und das mit gutem Grund«, fügt Paulus schmunzelnd hinzu.
Das Interesse der Studierenden an Archiven ist groß – vielleicht weil es in Zeiten digitaler Medien wieder einen verstärkten Drang gibt an authentische Orte zurück zu kehren. »Die Frage nach dem Vergessen und der Reaktivierbarkeit von Dingen, die wir im Internet sehr stark beobachten können, führt dazu, dass wir uns wieder mehr für Erinnern und Dokumentieren, Ablegen und Wiederhervorholen interessieren.« Und doch hat Paulus trotz aller Offenheit auch eine gewisse Zurückhaltung bemerkt: »Bei einigen Studierenden scheint es eine Furcht zu geben, dem Archiv nicht gewachsen zu sein oder etwas kaputt zu machen. Dies ist ganz natürlich bei Dingen, die nicht transkribiert oder in irgendeiner Form vorformatiert sind.« Denn in Deutschland sind etwa 70 % der Archivalien in deutscher Kurrenthandschrift verfasst und für Viele gar nicht zu entziffern. Auch Briefe sind eine große Herausforderung, da sie formal einen sehr hohen Freiheitsgrad aufweisen – anders als beispielsweise Dramenmanuskripte. »Dieser ersten Schwelle müssen sich die Studierenden erstmal stellen. Aber eigentlich meistern sie das ganz gut und manche studieren auch Anleitungen im Internet, die erklären, wie man sich die Schrift relativ schnell aneignen kann«, schildert Paulus die Beobachtungen aus seinem ersten Semester in Weimar.
Und wo sollte man das Archiv besser erfahren als in Weimar, dem Geburtsort des Literaturarchivs. Goethe selbst formulierte erstmals die Idee eines Archivs des Dichters und Schriftstellers. Die darin beschriebene systematische Sammlungstätigkeit wird zur Grundlage für das 60 Jahre nach seinem Tod in Weimar gegründete Goethe- und Schiller-Archiv – heute das älteste Literaturarchiv Deutschlands. Die Professur pflegt deshalb eine enge Kooperation zur Klassik Stiftung Weimar. Der regelmäßige Austausch mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Archivs ist für Paulus essentiell. In diesem Wintersemester gab es bereits eine Begegnung von Studierenden mit Papierforschern und Handschriftenkennern in den Räumen des Goethe- und Schiller-Archivs, initiiert und geleitet vom IKKM-Fellow Hanns Zischler, in der abstrakte Zeichnungen aus dem Nachlass des Dichters und Botanikers Adalbert von Chamisso betrachtet und auf ihre mögliche Entstehung sowie ihre bis heute rätselhafte Intention hin analysiert wurden.
Aber das Literaturarchiv ist nur ein Beispiel für Archive, Archive befinden sich auch in der Natur: Mit seinen Studierenden besucht Paulus gelegentlich den so genannten Schlangenstein, der etwas abgelegen im Park an der Ilm zu finden ist. »Der Stein erweckt eigentlich nicht den Eindruck, als würde so ein Kult um ihn betrieben. Er ist aber doch in vielerlei Hinsicht ein sehr interessantes Kunstwerk aus der Goethe-Zeit.« Die Inschrift Genio huius loci - Dem Geist dieses Ortes hat für Paulus eine wichtige Bedeutung und verkörpert sein umfangreiches Verständnis des Archivbegriffs. Denn Archivforschung in Weimar bezieht sich nicht nur auf das Literaturarchiv im klassischen Sinne, sondern ist auch Forschung in einem Raum vielfach wiederholter Spiegelungen (Goethe) – und die Rede vom »genius loci« verkörpert dies. Sein Forschungsinteresse gilt daher auch den Medien, die eine »genius-loci«-Performanz erst ermöglichen: Bau- und Denk-Steine wie der Schlangenstein, aber natürlich auch verstreute und zerstreute, an- und abgelegte Papiere.
In dem Seminar »Ein Brief / Eine Berechnung« hat Paulus den Studierenden einen Einblick in die archivarische Praxis gegeben und sie gleichermaßen sensibilisiert für die komplexen Zusammenhänge mit den kulturellen Wirklichkeiten der Archivtätigkeit. Anhand eines Liebesbriefes des Mathematikers Carl Friedrich Gauß haben sich die Studierenden mit den Infrastrukturen des Postsystems und der Kulturpraxis des Briefeschreibens auseinander gesetzt: Wann musste ein Brief abgeschickt werden, damit er noch rechtzeitig am Zielort ankommt? Welche Kalender wurden an den verschiedenen Orten genutzt? Wie wurden die Briefe gefaltet? Diese Fragen verweisen auf Kulturtechniken, die man laut Paulus kennen muss, um bestimmte Phänomene verstehen zu können. Ein Beispiel, das sich auch auf Paulus‘ Website findet, ist eben jener Liebesbrief von Gauß, der ein aufgebrochenes Siegel zeigt. Paulus erklärt, warum ihn dieses Archiv-Beispiel so fesselt: »Die Besonderheit des Briefes besteht für mich darin, dass das Bekenntnis ‚Ihr Liebender‘ im Siegelausriss zur Erscheinung kommt – an einem Ort, der durch die Faltung des Papiers determiniert wird, ohne dass man sagen könnte, dass das kalkuliert wäre. Vielmehr handelt es sich um eine Präsenzform, die in einem Zwischenraum zwischen Intention und Zufall, Materialität und Nachricht angesiedelt ist und gerade deshalb medienwissenschaftlich interessant ist.«
Paulus selbst hat bereits an mehreren historisch-kritischen Editionen und Archiv-Forschungsprojekten gearbeitet und teilt somit aus eigener Erfahrung die Ansicht, dass man als Archivar zwangsläufig auch ein bisschen Nerd sein muss: »Ein guter Archivar muss umdenken, mit seinen Archivalien verschmelzen, ja sich gewissermaßen in das Papier verkriechen.« Deswegen ist er froh, einen Ausgleich in der Lehre zu finden. »Es gibt ja zahlreiche Beispiele aus der Literatur, die beschreiben, dass Archivare und Philologen nach einer gewissen Zeit quasi eine Transformation durchleben und tatsächlich so etwas wie eine Papierhaut ausbilden«, weiß Paulus schmunzelnd zu berichten. An der Lehre schätzt er die unkalkulierbaren Elemente – für die meisten seiner Kollegen aus dem Archiv ein eher abschreckender Gedanke. Denn der Archivar im Allgemeinen mag es lieber vorhersehbar.
Paulus hatte bereits mehrere Begegnungen mit Weimar, unter anderem als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Goethe Nationalmuseum. 2016 kehrt er nun nach Thüringen zurück: »Wieder in Weimar zu sein, hat für mich eine Art Spiegeleffekt. Es ist als könnte ich Dinge, die ich vorher in Weimar gemacht habe, nun aus einer anderen Leserichtung tun.« Was Paulus‘ zuvor in Archiven erfahren hat, will er nun an der Fakultät Medien nochmal aus theoretischer Perspektive im Rahmen der Kulturtechnikforschung neu reflektieren.
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