BAUHAUS.INSIGHTS: Ein Erinnerungsort für Maurice Halbwachs
Maurice Halbwachs war ein bedeutender französischer Soziologe, der während der Terrorherrschaft des deutschen Nationalsozialismus‘ 1944 nach Buchenwald deportiert wurde und dort nach wenigen Monaten an den Folgen der Haft verstarb. Bis heute gibt es in der Stadt Weimar keinen Erinnerungsort, an dem dieser bedeutende Wissenschaftler gewürdigt wird – dies möchte die Bauhaus-Universität Weimar ändern und übernimmt Verantwortung gegenüber der Geschichte. Im Dezember 2024 wird sie deshalb ihren größten Hörsaal, das Auditorium Maximum, nach dem französischen Wissenschaftler benennen und ihm den Namen »Maurice-Halbwachs-Auditorium« verleihen. Mit zwei der Initiatoren der Schaffung dieses Gedenkortes, Professor Henning Schmidgen und Professor Frank Eckardt, haben wir für BAUHAUS.INSIGHTS über den Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs und ihre Beziehung zu seinem Wirken und seinem Schicksal gesprochen.
Prof. Schmidgen, Prof. Eckardt, Sie beide haben sich lange und intensiv mit Maurice Halbwachs beschäftigt und über ihn geforscht, vor einiger Zeit ihm zu Ehren eine Tagung organisiert. Wie dürfen wir uns den Wissenschaftler und Menschen Halbwachs vorstellen? Wie kam es zu seiner Haft in Buchenwald?
Prof. Eckardt: Maurice Halbwachs gehörte der zweiten Generation der französischen Soziologen an. Er zählte zur Schule Emile Durkheims, der die Gesellschaft als durch soziale Strukturen gekennzeichnet sah, die durch die Industrialisierung geprägt wurde. Zu Halbwachs‘ ersten Arbeiten gehörten daher Untersuchungen zur Lebenslage der Arbeiter in Frankreich. Er emanzipierte sich intellektuell im Laufe der Jahre von dieser sogenannten »strukturalistischen Schule« der Soziologie und beschäftigte sich auch mit Themen, die sich eher nicht statistisch erschließen, sondern – wie wir heute sagen würden – durch lebensnahe oder qualitative Studien. Das brachte ihn dazu, sich auch mit den Fragen des kollektiven Gedächtnisses auseinanderzusetzen, wofür er bis heute sehr bekannt ist.
Maurice Halbwachs verstand sich als »normalien«, wie sich damals Intellektuelle bezeichneten, die davon ausgingen, durch ihre intellektuelle Arbeit und Forschung einen Beitrag zur Gesellschaft beizutragen. Er stand deshalb der Sozialistischen Partei nahe, ohne sich hier irgendeiner Programmatik zu verschreiben oder gar orthodox zu denken. Im Gegenteil, er war ein Intellektueller, der über Grenzen hinweg dachte – und das ganz konkret: auch in Richtung Deutschland, damals ein absoluter Erzfeind Frankreichs. Ihm ist es zu verdanken, dass Max Weber in der französischen Soziologie eine gewisse Aufmerksamkeit fand.
Prof. Schmidgen: Umso erschreckender ist eigentlich das Schicksal von Halbwachs. Im Sommer 1944 wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert, nachdem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) ihn in Paris mit der Begründung verhaftet hatte, dass er seinem Sohn Pierre, der in der Résistance aktiv war, Unterschlupf geboten hat. Seiner Frau, die Jüdin war, gelang zwar die Flucht. Aber kurz zuvor war auch Pierre schon verhaftet worden. Er wurde ebenfalls nach Buchenwald deportiert, überlebte aber. Maurice Halbwachs starb dort im März 1945 an den Folgen von Deportation und Lagerhaft.
Halbwachs steht wie kein anderer für die Idee des »Kollektiven Gedächtnisses«. Nicht alle kennen den Begriff und sind damit vertraut. Können Sie den Begriff noch einmal erläutern?
Prof. Eckardt: Kurz gesagt war Halbwachs der Meinung, dass die Erinnerung kein zufälliges oder unveränderliches individuelles Erleben ist, sondern im hohen Maße vom gesellschaftlichen Umfeld und den Umständen abhängig ist, in denen sich der Erinnernde befindet. Diese Ansicht ist uns in Zeiten der Erinnerungspolitik vielleicht selbstverständlich geworden, aber seine Analyse von verschiedenen Feldern der gesellschaftlichen Kontextualisierung von Erinnerung hat umfassende Erörterungen über das Verhältnis von Erinnerung und Gesellschaft hervorgebracht. Diese differenziert die Komplexität dieses Verhältnisses aus und verdeutlicht sie, etwa am Beispiel von Sprache oder Räumen. Damit sind Halbwachs‘ Ansichten, auch wenn wir über die Befunde seiner Analysen heute zum Teil – auch aufgrund verbesserten Verständnisses der Neurobiologie des Gedächtnisses – anders denken, eine Anstachelung zum Hinterfragen selbstverständlicher Annahmen über das Erinnern geworden.
Als wichtiges Argument für die Namensgebung ist die große Aktualität von Halbwachs‘ Werk und seiner Forschung. Welche Aspekte würden Sie aus dem Blick Ihrer Wissenschaft, der Medienwissenschaft und der Urbanistik, besonders hervorheben? Warum sollten sich Studierende mit Halbwachs auseinandersetzen?
Prof. Schmidgen: So wichtig für Halbwachs die Frage des kollektiven Gedächtnisses war, wenn man die gesamte Breite seines Werks – die Beiträge zum »Durchschnittsmenschen«, zu den Bedürfnissen der Arbeiterklasse, zur Stadtsoziologie – in Rechnung stellt, dann zeichnet sich als übergreifendes Thema seiner Soziologie das Verhältnis des Menschen zur Materie, zur Umwelt ab. In immer neuen Anläufen hat Halbwachs interessiert, wie das menschliche Verhalten und Erleben durch die Umwelt geprägt wird, durch die soziale, aber eben auch die materielle Umwelt (die Stadt z.B.). Umgekehrt hat er aber auch untersucht, wie der Mensch seine Umwelt prägen kann, wie er aktiv und gestaltend in sie eingreift. Das kann man heute sicherlich im Sinne einer Art von Ökologie lesen. Darin besteht die Aktualität des Werks von Halbwachs. Aber man sollte nicht aus dem Auge verlieren, dass der Leitfaden dieser Betrachtung bei ihm die Existenz einer gesellschaftlichen Klasse war, die darauf spezialisiert war, die Materie zu bearbeiten: die Arbeiter.
Prof. Eckardt: Maurice Halbwachs bietet mit seinem Werk und seiner Biographie in vieler Hinsicht eine wichtige Reflektionsmöglichkeit, um verschiedene Aspekte des eigenen Denkens zu hinterfragen. Halbwachs ging sehr selbstverständlich von der positiven Rolle der Wissenschaft für den gesellschaftlichen Fortschritt aus, selbst unter den schwierigen Umständen der 1930er Jahre. Heute, in Zeiten von massiven Anfeindungen der Wissenschaft, ist die Selbstverständlichkeit nicht mehr gegeben und das Vertrauen in die wissenschaftliche Aussagekraft insgesamt hat für viele Menschen abgenommen. Wie lässt sich das wiederherstellen? Halbwachs war äußerst skeptisch gegenüber Feldforschung, so wie wir sie auch in der Urbanistik betreiben. Seine Kritik daran manifestiert sich insbesondere bei Fragen zur Migration, wie er dies in der Auseinandersetzung mit der Chicago School sehr deutlich werden ließ. Haben wir uns in der Urbanistik hier vielleicht in eine methodische Sackgasse verleiten lassen? Müssen wir uns wieder mehr mit den gesellschaftlichen Strukturen beschäftigen? Das sind durchaus provozierende Fragen für eine Urbanistik, die gerne lokal und konkret, für einzelne Orte und Menschen planen möchte. Halbwachs ist für uns ein notwendiger Stachel im Fleisch.
Mit der Umbenennung des Audimax schafft die Bauhaus-Universität Weimar einen Gedenkort für Halbwachs, rückt ihn und seine Persönlichkeit, aber auch die Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald stärker in das öffentliche Bewusstsein. Wie politisch ist die Umbenennung?
Prof. Eckardt: Die Umbenennung ist gesellschaftspolitisch sehr relevant. Sie ruft dazu auf, sich gegen die sich ausbreitende Vergangenheitsverklärung zu wenden, die die Verbrechen der Nationalsozialisten verharmlost und die Verfolgung von Wissenschaft, freier Debatte und Forschung verschweigt. Halbwachs steht für ein Denken und Fragen, ein Zweifeln und Forschen, das über den eigenen Standpunkt hinausgeht und damit persönliche und gesellschaftliche Lernprozesse durch das originäre wissenschaftliche Arbeiten in den Vordergrund stellt. Damit wird Toleranz und Meinungsvielfalt ermöglicht und Empathie kultiviert. Das alles ist heute durch die populistischen Bewegungen, die auf alleinige Weisheit beharren, in Frage gestellt und somit hochgradig politisch.
Prof. Schmidgen: Das Ziel der von uns verfolgten Initiative war es, die Erinnerung an die Opfer der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus in der Mitte des universitären Lebens zu verankern. Wir wollten damit ein deutliches Signal nach innen und außen senden, dass wir uns der aus der jüngeren deutschen Geschichte erwachsenden Verantwortung bewusst sind, und dass wir uns gegen alle Formen der totalitären Gewalt wenden – auch und insbesondere sofern Universitätsangehörige von ihr betroffen sind.
Gedenken muss und sollte lebendig gehalten werden – welche kollektiven Ereignisse oder Aktionen könnten Sie sich zukünftig vorstellen, um die Erinnerung an Halbwachs wach zu halten?
Prof. Schmidgen: Das kann auf sehr unterschiedlichen Ebenen passieren – von Seminaren und Vorlesungen, in denen die Rezeption der Soziologie von Halbwachs vorangetrieben wird, über Konferenzen, die mit Blick auf die bemerkenswerte Bandbreite seines Werks veranstaltet werden (Halbwachs hat sich z.B. auch intensiv mit der Philosophie von Leibniz auseinandergesetzt), bis hin zu Übersetzungen seiner Arbeiten, denn bislang liegt ja nur ein Bruchteil davon in deutscher Sprache vor. Das Schicksal von Halbwachs im Konzentrationslager Buchenwald kann aber auch ein Anstoß dafür sein, sich für das Schicksal anderer Wissenschaftler in diesem Konzentrationslager zu interessieren. Allein von der Université de Strasbourg, an der Halbwachs lange tätig war, sind etwa 120 Angehörige in dieses Konzentrationslager deportiert worden. Nach der Befreiung kehrte nur etwa die Hälfte von ihnen nach Strasbourg zurück.
Prof. Eckardt: Es liegt auf der Hand, weiter mit dem kollektiven Gedächtnis in den relevanten Lehr- und Forschungsformaten unserer Universität zu arbeiten. Das Werk und das Leben Halbwachs bieten aber auch viele andere Möglichkeiten der Aktualisierung. Viele gesellschaftlichen Problemlagen waren zu seiner Zeit ein Tabu, sie sind es für viele Menschen nach wie vor. Mir persönlich schwebt beispielsweise das Thema Selbstmord vor, das Halbwachs intensiv beschäftigt hat und das bis heute kaum öffentlich besprechbar ist. Daran zu rütteln und hierzu auch die Defizite der psychologischen Hilfe zu problematisieren, das wäre sicherlich in seinem Sinne.
Prof. Schmidgen, Prof. Eckardt, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Die Fragen stellte Claudia Weinreich.
Termine
24. Oktober 2024
Buchvorstellung: Das Buch »Témoignages strasbourgeois. Berichte französischer Überlebender der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora« wird am 24. Oktober um 18 Uhr in der Bibliothekslounge vorgestellt.
Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, und Prof. Dr. Henning Schmidgen, Professor für Medientheorie und Wissenschaftsgeschichte an der Bauhaus-Universität Weimar, führen durch die Veranstaltung und geben Einblicke in eine aufrüttelnde Auseinandersetzung mit den persönlichen Erfahrungen der Überlebenden.
4. Dezember 2024
Der Festakt zur Umbenennung findet am 4. Dezember 2024 statt.