BAUHAUS.INSIGHTS: Künstlerische Interventionen schaffen Berührungspunkte mit dem Leben und Leiden von Zwangsarbeiter*innen in der NS-Zeit
Anfang Mai wurde in Weimar am ehemaligen Gauforum das Museum Zwangsarbeit im Nationalsozialismus eröffnet. Die Dauerausstellung präsentiert einzigartiges und weitgehend unbekanntes Material aus der Geschichte der Zwangsarbeit und ermöglicht Besucher*innen durch Zeitzeugenberichte und interaktive Elemente, sich intensiv mit diesem Teil der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die gezeigten Dokumente, Bildüberlieferungen und Fallgeschichten sind das Ergebnis langjähriger Recherchen in Archiven in Europa, den USA und Israel und erzählen die Zwangsarbeit vor allem als eine Beziehungsgeschichte zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den Zwangsarbeiter*innen.
In Zusammenarbeit mit der Weimarer Künstlerin und Alumna der Bauhaus-Universität Weimar Anke Heelemann hat die Museumsleitung künstlerischen Interventionen entwickelt, die die Geschichte der NS-Zwangsarbeit in den öffentlichen Raum bringen. Menschen, die von den Deutschen zu Zwangsarbeiter*innen gemacht wurden, erhalten eine Präsenz mitten in unserem Alltag. So schaffen die Interventionen unvermittelte, direkte Begegnungen mit der Vergangenheit; sie wollen überraschen und durchaus irritieren, Neugier stiften und Bewusstsein für Geschichte anregen.
Für das BAUHAUS.JOURNAL ONLINE haben wir Absolventin Anke Heelemann im Rahmen unserer Serie BAUHAUS.INSIGHTS einige Fragen zu ihren Interventionen gestellt.
Frau Heelemann, die Kunstaktion trägt historische Dokumente zum Thema NS-Zwangsarbeit auf ungewöhnliche Weise in die digitale wie analoge Öffentlichkeit und wirkt so für die Menschen unvermittelt und direkt. Wie können wir uns diese Interventionen im Stadtraum vorstellen?
Die Interventionen wirken mit verschiedenen Formaten auf unterschiedlichen Ebenen im öffentlichen Raum. Am Bahnhof, an Haltestellen, beim Friseur und Fitnessstudio, im Theater und Kino, auf städtischen Bänken, im Amtsblatt der Stadt – an ganz alltäglichen Orten soll eine überraschende Begegnung mit der Vergangenheit initiiert werden. Für das Thema soll ein nachhaltiges Bewusstsein geschaffen werden, so wie auch Zwangsarbeit überall stattgefunden hat. Das Projekt ist quasi der verlängerte Arm des Museums, das Anfang Mai eröffnet hat. Private Fotografien von Zwangsarbeiter*innen sowie Regeln und Verbote, die für sie galten, wurden für diverse Medien aufbereitet (Postkarten, SwingCards, Plakate, Umschläge, etc.).
Alle Formate werden dabei als »Störer« eingesetzt. Da hängt ein Ausgehverbot für Zwangsarbeit*innen ganz bewusst neben dem Spielplan des Theaters oder ein zunächst harmloses Foto einer Zwangsarbeiter*in taucht mitten in der Kundenzeitschrift der Stadtwerke auf, die Rückseite klärt mit einem Erinnerungsbericht auf und schafft den Kontext. Menschen, die von den Deutschen zu Zwangsarbeiter*innen gemacht wurden, erhalten auf diesem Weg eine Präsenz mitten in unserem Alltag.
Zugleich konfrontiert das Projekt mit dem rassistischen Regelwerk der Nazis. Die bewusste Irritation ist dabei geklärtes Ziel. Zugleich sind aber alle Medien über QR-Codes mit der Internetseite des Museums verlinkt, hier finden sich ausführliche Hintergrundinformationen, u. a auch zu den Biografien der Zwangsarbeiter*innen. Das Projekt basiert dabei auf dem Grundgedanken, dass es von der Stadt Weimar mitgetragen wird. So gibt es Busfahrer*innen, die unsere SwingCards in den Bussen aufhängen, oder Gewerbetreibende, die einzelne Fächer in ihrem Postkartenständern mit vorrangig klassischen Weimar-Motiven für unsere Postkarten leerräumen.
Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit mit dem Museum und wie verstehen Sie Ihre künstlerische Rolle in diesem Kontext?
Im Zuge der Museumseröffnung in Weimar war es dem Museumsteam ein wichtiges Anliegen, das Thema Zwangsarbeit im Nationalsozialismus in den Stadtraum zu bringen. Die Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora besteht seitdem die ursprünglich als Wanderausstellung konzipierte Ausstellung im Jüdischen Museum in Berlin eröffnet wurde und danach durch Europa tourte. Bereits 2010 in Berlin durfte ich zur Eröffnung Interventionen für den öffentlichen Raum entwickeln und umsetzen, die jetzt für den Einsatz in Weimar und darüber hinaus weiter ausgebaut wurden. Es ist toll, dass eine Institution das Vertrauen hat und natürlich auch ihre zeitlichen und finanziellen Kapazitäten nutzt, um neue Wege und Chancen der Vermittlung zu gehen, die solch ein künstlerisches Konzept bieten. Weg vom reinen Marketing hin zu konkreten Inhalten und deren Transfer in die Gegenwart und den Alltag der Menschen – eben genau dorthin, wo Zwangsarbeit stattgefunden hat und zu verantworten ist: in aller Öffentlichkeit, mitten in der Gesellschaft. Und letztlich geht es darum, ein Zeichen zu setzen und an unsere historische und gesellschaftliche Verantwortung zu appellieren.
Woher stammen die vielen Aufnahmen von Zwangsarbeiter*innen und wie wurden die Geschichten hinter den abgebildeten Personen recherchiert?
Die Interventionen wurden aus den Inhalten der Dauerausstellung entwickelt, die nun im Museum Zwangsarbeit zu sehen sind, das ich nur jede*m empfehlen kann. Ein Historiker*innenteam hatte im Rahmen der Erarbeitung der Ausstellung seit 2007 in verschiedenen Archiven recherchiert und viele Dokumente zusammengetragen, unter anderem auch eine Vielzahl von Privatfotografien – mit der damals keiner gerechnet hatte. Es sind u.a. Institutionen, die die Abwicklung der Entschädigungsansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter*innen organisierten. Als in Deutschland in den 2000er Jahren eine Entschädigung beschlossen und umgesetzt wurde, waren diese Dokumente für Betroffene oft die einzige Möglichkeit ihre NS-Zwangsarbeit zu belegen. Die Fotos wirken zunächst ganz alltäglich. Erst durch die rückseitigen Notizen oder die Kombination mit Erinnerungsberichten zur Zwangsarbeit wird deutlich, dass es sich hier keineswegs um normale Privatfotos handelt.
Sie haben seit 2006 ein ganz persönliches Langzeitprojekt die »FOTOTHEK«. Gibt es zu allen Fotos eine Geschichte?
Klar gibt es die – aber eben nicht nur die eine. Denn das Prinzip der FOTOTHEK ist ein ständiges Wiedersehen, ein Neu-Sehen und Befragen meines Archivs an Privatfotografien. Die Fotografien sind hier aber anonym, die Provenienz ist nicht geklärt. Das heißt, der Kontext der Bilder wird und muss immer wieder neu kreiert werden - die Geschichten neu erzählt werden. Das passiert meist in interaktiv-performativen Formaten, bei denen ich Medien wie Installation, Fotografie, Theater, Sprache und Kommunikation einsetze. Im Zentrum meiner Auseinandersetzung stehen neben dem anonymen Bildmaterial Partizipation und Teilhabe. Die permanente Neukontextualisierung des Materials schafft eine eigene Reflexion über die Konstruktion von Identität in Fotografien sowie über individuelle und kollektive Erinnerung.
Wenn man die heutige Bilderflut betrachtet: Wird es auch in Zukunft trotzdem noch möglich sein, über Schnappschüsse Geschichten zu erzählen oder sind diese mittlerweile zu inszeniert, um authentisch zu sein und auch zu beliebig?
Natürlich gibt es heute eine inflationär hohe Zahl an Fotos, die jede*r von uns durch die Gegend trägt und in den diversen Netzwerken zirkulieren lässt. Dennoch bin ich mir sicher, dass auch dieses Material mit einem gewissen historischen Abstand Fundus und Inspiration sein kann – auch wenn die Masse samt ihrer Materialität schwer fassbar ist, also das Einzelbild im allgemeinen Bilderfluss seine Bedeutung verliert. In meinem Archiv ist jegliches Material noch analog, das FOTOTHEK-Projekt versteht sich auch als ein Gegenentwurf zur heutigen Bilderflut.
Zudem glaube ich, dass die Fotos heute auch nicht weniger oder mehr inszeniert sind als früher. Sicher sind mehr Bilder als früher bearbeitet und decken ein größeres Themenfeld ab, aber angesichts der Unmenge an Fotografien und Themen, bieten diese Bilder genügend Reibungsfläche, um es als Material für künstlerische Auseinandersetzungen zu nutzen. Vielleicht brauchen sie mehr denn je ihre Geschichte, um im Bilderfluss bestechen zu können. Auch sie sind ein Spiegel unserer Zeit und natürlich auch unserer selbst.
Weitere Informationen:
www.museum-zwangsarbeit.de/museum/interventionen_2024
www.vergessene-fotos.de
Die BAUHAUS.INSIGHTS-Fragen zu den »Interventionen« stellten Silvia Riedel und Claudia Weinreich.