Der Weg ins Semester #5 – Nicht um jeden Preis digital
An der Fakultät Kunst und Gestaltung laufen die Vorbereitungen für das außergewöhnliche Sommersemester 2020 auf Hochtouren. Gerade ein künstlerisches oder gestalterisches Projektstudium mit großem Praxisbezug ist unter den gegebenen Umständen nur schwer vorstellbar. Wie also bereiten die Lehrenden und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Werkstätten ihre Lehre ohne Präsenz vor?
Das Studium in einem künstlerischen oder gestalterischen Studiengang unterscheidet sich wesentlich von dem in anderen Fächern: Es gibt einen intensiven persönlichen Austausch zwischen Studierenden und Lehrenden. Die Studierenden arbeiten eng zusammen in den Ateliers und Räumen an ihren Projekten. Die gemeinsame Arbeit in den Studios und vor allen Dingen der praktische Umgang mit Materialien und Werkzeugen in den Werkstätten können nicht eins-zu-eins in den virtuellen Raum transferiert werden.
A/Normalität, Appropriation und Ambiguität
Die Aufforderung, den eigenen Unterricht der gegenwärtigen Situation anzupassen, nutzen die drei Professuren, die an der Fakultät Kunst und Gestaltung die Geschichte und die Theorie der Kunst, der Visuellen Kommunikation und des Design lehren, für grundsätzliche Überlegungen. Zum einen loten sie aus, welche (Un-)Möglichkeiten sich dem Umschalten auf eine digitalisierte Lehre bieten. Zugleich richten sie ihre Lehrveranstaltungen nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich neu aus. Das geschieht durch die Verbindung der fachspezifischen Inhalte mit Fragestellungen, die auf die gegenwärtige Situation reagieren. Drei Begriffe dienen ihnen dabei als übergeordnete Reflexionsbegriffe: A/Normalität, Appropriation und Ambiguität.
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Um zu verstehen, dass es sich im gegenwärtigen Krisenmodus um einen tiefgreifenden Einschnitt handelt, reicht es vollkommen aus, sich die Frage zu stellen, was heute noch normal und was anormal ist. In Zeiten von sozialer Entwöhnung und Erlebnisarmut (Stichwort »Social Distancing«) stellt sich ein gewaltiger kultureller Umbruch ein, der unsere (allzu selbstverständliche?) Welt, unsere individuellen Bedürfnisse und unsere gesellschaftlichen Gewohnheiten ergreift. Befürchtungen wachsen, der globale Ausnahmenzustand könne sich dauerhaft durchsetzen und sich als neuer Alltag unseren individuellen und kollektiven Praktiken einschreiben – als der neue Normalzustand. Damit wäre ein Zustand erreicht, der im besten Wortsinn als »a/normal« bezeichnet werden könnte. Statt sich aber im Dschungel der derzeitigen politischen und ideologischen Reflexe zu verlieren, soll die reflexive Bemühung darauf zielen, die unterschiedlichen Regime und Netzwerke unseres veränderten a/normalen Alltag aufzudecken und hierbei auch die damit verbundenen Paradoxien, Potenziale und Leerstellen freizulegen. Eine solche Entwirrung der sich vielfach überlagernden Konfliktlinien von Normalität und Anormalität fordert nicht zuletzt die künstlerischen und gestalterischen Diskurse und Praktiken heraus. Sie verlangt nach neuen Definitionen, erzeugt neuartige Komplexität und provoziert Widerspruch.
Die gegenwärtige Zeit ist zugleich bestimmt von überraschenden Appropriationsprozessen und damit verbunden Praktiken der Umwidmung und Anpassung. Im »Home Office« werden aus Küchen, Kellern, Garagen, Kinderzimmern oder sogar Wohnzimmern funktionsfähige Arbeitsräume, welche die Vorbereitung und sogar die Durchführung der Lehre sicherstellen sollen, bei gleichzeitiger Bemühung, die Privatheit der eigenen Räume zu bewahren: Die Aneignungen sollen kein Gefühl des räumlichen Enteignetwerdens aufkommen lassen, schließlich muss die gefundene Neuordnung wohl eine ganze Weile Bestand haben können. Auch bei der Anpassung und Umwidmung der Lehrformate gilt es, Aneignungspotenziale und Enteignungsgefahren gegeneinander abzuwägen. Beim Versuch, die eigene Lehre ins Digitale zu verlegen, wird dreierlei deutlich. Erstens: es geht einfach nicht. Was wir machen werden, wird etwas gänzlich anderes sein. Der Medienwechsel wird bei allem Neugewinn von Möglichkeiten mit Verlusten zurechtkommen müssen. Zweitens: es geht plötzlich vieles, das vorher undenkbar war. Der Digitalisierungsschub in der universitären Lehre ist erheblich und möglicherweise nachhaltig. Kooperationen werden intensiviert, Abläufe verkürzt und Wissensbestände aus dem Feld der Lehre geteilt und in neuartiger Weise angewendet. Drittens: die Digitalisierung findet innerhalb gegebener, schon vor der Krise vorhandener medialer Umgebungen statt. Aneignung ist hierbei erneut das Gebot der Stunde, und zwar auf eine mehrstufige Weise. Zunächst geht es darum, intendierte Funktionen und Handhabung zu verstehen. Kulturanthropologisch interessanter wird es dort, wo neue Sinnhaftigkeiten im Gebrauch erzeugt werden. Es geht weniger darum Lehrprogrammatiken der Plattformen nachzuspielen, sondern die Tools auf Potenziale jenseits der Programmierungsintention zu prüfen und möglicherweise bestimmte Funktionen spielerisch zu hinterfragen. Innerhalb der Handlungsmöglichkeiten der Plattformen geht es um das Entwickeln von Wegen, der Pluralität der Lehrformen der Bauhaus-Universität gerecht zu werden.
Dass kulturelle Artefakte keine fixierte Bedeutung haben, sondern in jeweiligen Deutungskontexten je andere Sinnpotenziale erzeugen, gehört zu den Grundeinsichten des Nachdenkens über Objekte der Kunst, des Designs und der Visuellen Kommunikation. Die Ambiguität, Mehrdeutigkeit und Offenheit der Objekte sowie die Ambivalenz unserer Reaktionen darauf bestimmen den herausfordernden Umgang mit ihnen. Die gegenwärtige Situation konfrontiert uns nun mit Ambiguitäten und Ambivalenzen auf allen Ebenen. Das Virus ist selbst kein Lebewesen und hat dennoch die Kraft, unser gesamtes Leben zu bestimmen. Die Mitmenschen sind uns so wichtig wie nie und zugleich diejenigen, welche uns möglicherweise gefährden. Etwas gegenüber einem anderen Menschen nicht zu tun – ihn z.B. nicht zu umarmen – ist plötzlich Ausdruck unserer besonderen Fürsorge. Eine der wesentlichen seelisch-geistigen Herausforderungen dieser Krise besteht in der Einübung dessen, was Psychologie, Pädagogik und Soziologie als „Ambiguitätstoleranz“ beschreiben. Sie besteht in der Einsicht, dass wir mit Uneindeutigkeit umgehen müssen, da wir sie nicht eliminieren können. Denn die gegenwärtige Situation ist zugleich miserabel und chancenreich, das Zuhausebleiben für die einen ein Segen und für die anderen ein Fluch, der Shutdown ebenso ökonomisches Risiko wie ökologischer Segen. Wir erkennen, dass Situationen nicht einfach so oder anders sind, sondern genau so sind, wie sie uns erscheinen. Die Interdependenz von objektiver Mehrdeutigkeit und subjektiver Bewertung wird offenbar. In dieser Situation lohnt es sich, die Psychologie, die philosophische Ästhetik und die Kunsttheorie auf ihre Beiträge zur Ambiguität ästhetischer Objekte und zur Ambivalenz ihrer Bewertungen anzuschauen. Hierbei treten künstlerische Artefakte als solche heraus, an denen sich das Zusammenspiel von Objekteigenschaften und subjektiver Bewertung modellhaft zeigt. Sie sind vorzügliche Objekte, um an ihnen Ambiguitätstoleranz einzuüben.
Abstand und Nähe
»Distance und Proximity – Abstand und Nähe«: so lautet das Meta-Thema im Studiengang Produktdesign. Alle Projekte und Fachkurse werden an dieser Herausforderung ausgerichtet, während die Vielfalt des Angebots erhalten bleiben soll. »Das Thema soll und wird uns nicht einschränken«, beschreibt Prof. Wolfgang Sattler die Idee. »Im Gegenteil, es ist ein ›Call for Action‹! Nun gilt es, neue Wege und Strategien zu entwickeln und genau hier setzt Gestaltung an.« Dabei soll die besondere Studienkultur nicht virtuell imitiert werden: Über das Sommersemester werden digitale Lehr- und Lernformate genutzt, getestet, verworfen oder optimiert und neue Wege und Formate werden gesucht. Es wird ein experiment-orientiertes Semester.
Digital, aber nicht auf Biegen und Brechen
In der Freien Kunst möchten die Lehrenden das Digitale nicht erzwingen. »Im Studiengang arbeiten die Studierenden an ganz individuellen Projekten, die sich nicht einfach in E-Learning-Formate für eine ganze Gruppe transformieren lassen«, so Prof. Jana Gunstheimer. »Wir möchten das Digitale nicht erzwingen: Wo das E-Learning seine Lücken zeigt, können auch analoge Lösungen gefunden werden. Zines, Flugblätter und Postkarten können entworfen und verteilt werden. Wir werden uns im kommenden Semester damit auseinandersetzen, wie man unter den gegebenen Umständen Ausstellungen und die Präsentation von Kunst neu denken und definieren kann und muss. Neue Strategien des Zeigens außerhalb standardisierter Ausstellungsflächen müssen entwickelt werden, sowohl online als auch offline. Darüber hinaus bietet die sich verändernde Lebenssituation Anlass zu künstlerischen Untersuchungen jeder Art.«
Ausloten von persönlichen Grenzen und kreatives Drucken in der WG-Küche
»Wie weit kannst Du gehen?« lautete derweil der Titel des Projektes, das der Gastwissenschaftler Stefan Guzy, der in diesem Semester die Professur Grafikdesign vertritt, geplant hatte. Es sollte um kleine, freie Einzelprojekte gehen, die die persönlichen Grenzen ausloten. »Die nun durch die Krise entstandene radikale Verschiebung von Bewegungszonen, persönlichen wie gesellschaftlichen Freiheiten und die Veränderung der Kommunikationswege macht das geplante Thema weiterhin spannend«, berichtet Stefan Guzy. »Also widmen wir uns einfach diesen neuen Grenzzonen, kartieren, evaluieren und erforschen sie künstlerisch.« Das Ganze soll ausschließlich in onlinegestützten Kolloquien geschehen. Auch die Präsentation der Semesterergebnisse wird ausschließlich digital erfolgen.
Fast prophetisch wirkt auch der Titel eines weiteren Projektes im Studiengang, das gemeinsam mit Stefanie Schwarz, Juniorprofessorin für Typografie, dem künstlerischen Mitarbeiter Adrian Palko und dem Leiter der Druckwerkstatt, Jörg von Stuckrad, geplant ist: »Wir leben in denkwürdigen Zeichen«. Eigentlich stand die Arbeit in der Werkstatt im Vordergrund: Experimente mit künstlerischen Drucktechniken und anschließend der Druck in kleiner Auflage.
Werkstätten leisten Unterstützung und arbeiten an kreativen Lösungen
Doch die Druckwerkstatt ist nun geschlossen. »Das Problem der geschlossenen Werkstatt wollen wir kreativ angehen. Wir stellen ein kleines Do-It-Yourself-Kit aus Materialien wie einem Drucksieb, Farbe, Papier etc. zusammen, das dann den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zugeschickt wird. So ist jeder Studierende aus der Gruppe in der Lage, gleichsam in der WG-Küche einfache Druckexperimente vorzunehmen, die Materialien kreativ durch vorgefundene Werkzeuge zu erweitern und im wöchentlichen Austausch die sicher auch unterhaltsamen Video- und Fotodokumentationen dazu zu diskutieren«, beschreibt Prof. Stefanie Schwarz die neue Strategie.
Die Werkstatt selbst könnte dann weiterhin als Ausführungsort dienen, indem bestimmte Arbeitsschritte per Telefon oder E-Mail abgestimmt werden, dann durch den Werkstattleiter durchgeführt und für die Studierenden zur Abholung bereitgestellt werden.
In der Holz- und der Kunststoffwerkstatt werden derzeit Spritzwände für die Kolleginnen und Kollegen in der Ausleihe der Universitätsbibliothek angefertigt. »Der Leiter der Uni-Bibliothek, Dr. Frank Simon-Ritz, hat uns um Unterstützung gebeten«, berichtet Annett Habisreuther, Geschäftsführerin der Fakultät Kunst und Gestaltung. »Selbstverständlich helfen wir in diesen außergewöhnlichen Zeiten auch anderen Einrichtungen der Universität, soweit es uns die Kapazitäten erlauben.«
Aber vor allen Dingen die Studierenden sollen in ihrem Studium unterstützt werden. So beschäftigen sich die Mitarbeitenden in den Werkstätten derzeit damit, wie vor allen Dingen die, die gerade mitten in ihrem Abschluss stecken, am besten betreut werden können. Vorstellbar ist, dass das Werkstattpersonal benötigte Präsentationspodeste, Rahmen und anderes auf der Basis von Entwürfen und Plänen der Studierenden – quasi im Auftrag – anfertigt. Ebenso werden Möglichkeiten der Technikausleihe und der Zugang zu Schnittplätzen und Computerpools diskutiert und erarbeitet. Lösungen werden gefunden, das steht fest.