BAUHAUS.INSIGHTS: »Gewohnter Wandel« – Graduiertenkolleg erforscht, wie Wohnen und Gesellschaft sich gegenseitig verändern
Wie Menschen wohnen, ist von enormer Bedeutung – nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch für die Gesellschaft. Unsere gebaute Wohnumwelt prägt gesellschaftliche Entwicklungen, während umgekehrt auch unsere sozialen Praktiken unsere Wohnsituation verändern – aber wie genau? Wo liegen die Konflikte, die Herausforderungen, und wie kann Forschung dabei helfen, die großen Wohnungsfragen unserer Zeit zu lösen?
Mit diesen Fragen befasst sich seit dem 1. Oktober 2024 das gemeinsame Graduiertenkolleg »Gewohnter Wandel. Gesellschaftliche Transformation und räumliche Materialisierung des Wohnens« der Bauhaus-Universität Weimar und der Goethe-Universität Frankfurt. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit 7,2 Millionen Euro geförderte Projekt ermöglicht in der ersten Phase bis 2029 bis zu 40 Nachwuchswissenschaftler*innen (Postdocs und Promovierenden) an beiden Universitäten zur aktuellen Lage der Wohnungsversorgung zu forschen.
Prof. Dr. Barbara Schönig, Professur Stadtplanung an der Fakultät Architektur und Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar, leitet das Graduiertenkolleg als Sprecherin.
Frau Prof. Schönig, wo genau sehen Sie den wissenschaftlichen Fokus und das eigentliche Ziel des Kollegs?
Ganz grundsätzlich betrachten wir, wie sich soziale und räumliche Transformationsprozesse im Wohnen niederschlagen, wie sie sich gegenseitig beeinflussen und welche Rückwirkungen das wiederum auf die Transformationsprozesse hat. Wie sich das gegenwärtig auswirkt, untersuchen wir im Kolleg anhand von fünf wesentlichen Trends: Da ist zunächst die Knappheit an bezahlbarem Wohnraum in Zusammenhang mit der Privatisierung und Finanzialisierung von Wohnungsversorgung, die man sowohl global als auch in Deutschland seit mehreren Jahrzehnten beobachten kann. Das verstärkt weltweit die Ungleichverteilung von Wohnraum in der Gesellschaft. Immer mehr Menschen werden arm, weil sie zu hohe Wohnkosten haben, in überbelegten oder zu kleinen Wohnungen wohnen, von Couch zu Couch bei Freund*innen ziehen oder aufhören müssen zu heizen. Das ist der zweite Trend, den wir uns anschauen: die Polarisierung und Prekarisierung des Wohnens. Der dritte Trend betrifft die Diversifizierung von Wohnformen, denn unsere Gesellschaft wird immer diverser – nicht nur sozioökonomisch, sondern auch mit Blick auf Lebensstile und Familienformen. Viertens ziehen mit der Digitalisierung neue Techniken in unsere Wohnräume ein. Sie verändern die Produktionsprozesse, wenn Wohnungen gebaut werden, aber auch, was wir zuhause tun. Wir verzichten bspw. auf den Weg ins Büro und machen Videokonferenzen im Schlafzimmer. Und schließlich erwachsen fünftens aus der Klimakatastrophe und der Endlichkeit natürlicher Ressourcen neue Herausforderungen an das Wohnen, das ja den überwiegenden Anteil unseres Gebäudebestands ausmacht. Wir betrachten also insbesondere, wie Klimakrise und Ökologisierung die Wohnungsversorgung verändern und gesellschaftlich ausgehandelt werden.
Diese fünf Trends überlagern einander natürlich und nicht jede Arbeit in unserem Kolleg kann alles erforschen. Aber alles in allem geht es uns darum zu verstehen, wie sich das Wohnen verändert und wie sich diese gesellschaftlichen Trends in unseren Praktiken des Wohnens, in seiner Organisation und Regulierung sowie seiner räumlichen Materialisierung niederschlagen – es geht uns um die Zusammenhänge dieses Transformationsprozesses.
Das Kolleg vereint sozial- und geisteswissenschaftliche Forscher*innen der Goethe-Universität Frankfurt mit Forscher*innen aus der Urbanistik, Architektur und den Ingenieurwissenschaften an der Bauhaus-Universität Weimar. Wie kommen diese Kompetenzen zusammen? Wo und wie wird gemeinsam gearbeitet?
Wenn man fragt, wie sich das Wohnen in Zukunft entwickeln wird, entsteht ja eine Vielzahl an Fragen im Kopf: Auf welche Weise, zu welchen Kosten, in welchen Räumen, an welchem Ort und mit welcher technischen Infrastruktur werden wir wohnen? Wie können alle angemessen versorgt werden, wie kann Wohnen bezahlbar und trotzdem ökologisch verträglich gestaltet werden? Es liegt auf der Hand, dass sich diese Fragen nicht NUR aus einer soziologischen ODER ökonomischen ODER stadtplanerischen Perspektive beantworten lassen. Wir können sie nur beantworten, wenn wir disziplinübergreifend zu ihnen forschen. Das findet auf mehreren Ebenen statt: Jede Promotion im Kolleg wird grundsätzlich von zwei Kolleg*innen aus verschiedenen Disziplinen betreut. Außerdem findet in gemeinsamen Veranstaltungen wie Ringvorlesungen und Seminaren ständig interdisziplinärer Austausch statt. Insbesondere, um Perspektiven auf Methoden und Theorien auszutauschen, mit denen wir auf das Wohnen blicken. Wichtig ist auch der alltägliche Austausch, den wir den Kollegiat*innen durch Bürostandorte in Frankfurt und Weimar ermöglichen.
In Frankfurt soll ein »Wohnlabor« entstehen – was genau ist das und welche Impulse erhoffen Sie sich daraus für das Kolleg?
Das Wohnlabor wird am Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt angesiedelt sein. Es soll mit partizipativen Projekten dazu beitragen, methodische und methodologische Fragen der Wohnungsforschung weiterzuentwickeln. Dazu analysiert das Wohnlabor sozial-ökologische Transformationskonflikte vor Ort.
Konkret sollen im Wohnlabor im Austausch mit Akteur*innen vor Ort zivilgesellschaftliche Projekte, politische und ökonomische Veränderungen oder auch experimentelle bauliche Strategien erforscht werden, die Wohnbedarfe, -formen und -bedingungen verändern. Dabei ist es auch das Ziel, diesen Wandel mit unseren Forschung begleitend mitzugestalten.
Im Wohnlabor stellen wir solchermaßen unmittelbar transdisziplinäre Schnittstellen her. Und das streben wir auch im gesamten Kolleg an. Das geschieht bei öffentlichen Veranstaltungen und in der Zusammenarbeit mit Partner*innen aus Praxis und Zivilgesellschaft. Unsere Forschung ist ja kein Selbstzweck. Es geht uns darum, das Wohnen der Zukunft aktiv mitzugestalten. Um den dafür nötigen inter- und transdisziplinären Diskurs anzustoßen, ist das Wohnlabor ideal, weil es in sich bereits Wissenschaft und Praxis verbindet.
Wie ist der regelmäßige Austausch mit Partner*innen aus Zivilgesellschaft und Praxis organisiert und wie können die Promovierenden und Postdocs davon am besten profitieren?
Neben den schon erwähnten öffentlichen Veranstaltungen ermöglichen wir zum Beispiel Hospitationen in Wohnungsunternehmen und Kommunalverwaltungen, die Durchführung von Workshops mit Interessengruppen, darüber hinaus natürlich gezielte Vernetzungen, aber auch die Vermittlung und Diskussion von Forschungsinhalten.
Wir können gegenwärtige Veränderungen des Wohnens schlicht nicht verstehen, wenn wir nicht mit allen Akteur*innen im engen Austausch sind, die die Wohnungsversorgung tagtäglich gestalten und in der Praxis betrachten. Und das geschieht nun einmal in Kommunen und der Wohnungswirtschaft, in der Kommunikation über Baukultur und Architekturgeschichte oder in spezialisierten Forschungsinstituten. Zugleich wollen wir natürlich auch unsere Erkenntnisse mit diesen Akteur*innen diskutieren und weiterentwickeln. Von diesem Austausch profitieren unsere Promovierenden und Postdocs unmittelbar für ihre Forschung. Gleichzeitig können sie dadurch zusätzliche Kompetenzen jenseits ihrer wissenschaftlichen Qualifikation erwerben.
Ihre Ringvorlesung im aktuellen Wintersemester 2024/25 bringt gerade noch zusätzliche Impulse aus anderen Ländern ein. Welche internationalen Trends für Wandel im Wohnen sollten sich deutsche Stadtplaner*innen unbedingt ansehen?
Wir konnten in der Ringvorlesung im ersten Semester internationale Gäste aus Österreich (Wien), Dänemark (Kopenhagen), Belgien (Gent) und den Niederlanden (Delft) begrüßen. Wenig überraschend und doch eben eindrücklich führte uns der Vortrag aus Wien wieder einmal vor Augen, wie sehr die langfristige Kommunalisierung von Wohnraum seit mehr als 100 Jahren nicht nur städtebauliche und architektonische Qualität im Wohnungsbau ermöglicht, sondern auch dauerhaft bezahlbare Mieten für einen großen Teil der Bevölkerung schafft. Die Beiträge aus Brüssel und Kopenhagen betrachteten große Wohnsiedlungen in wohlfahrtsstaatlichen Kontexten – aber auch wie Bewohner*innen sie sich aneignen können. Der Vortrag aus Delft wiederum verdeutlichte die Bedeutung grundlagenorientierter Wohnungsforschung in Europa. Verdeutlicht wurde dies mit Blick auf gegenwärtige Wohnungskrisen wie jener in Amsterdam, wo junge Menschen dramatisch von den in die Höhe schießenden Wohnungspreisen betroffen sind.
Insgesamt hat die Ringvorlesung gezeigt, wie dringlich eine langfristige, sozial und ökologisch orientierte Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik ist – und übrigens auch, wie dringlich eine Forschung gebraucht wird, die dazu auskunftsfähig ist, wie eine solche Politik zu gestalten wäre.
40 Postdocs und Promovierende sollen bis 2029 innerhalb des Graduiertenkollegs forschen dürfen. Wie viele Plätze gibt es aktuell für Weimarer Studierende und wann kann man sich wieder bewerben?
Derzeit arbeiten sieben wissenschaftliche Mitarbeiter*innen in Frankfurt und sechs in Weimar. In der nächsten Ausschreibung 2027 werden wir weitere zwölf Stellen für Promovierende anbieten. Dann können sich Weimarer Studierende – wie auch alle anderen Interessierten – wieder bewerben, übrigens nicht nur für eine Stelle in Weimar, sondern auch in Frankfurt, je nachdem, wohin das Projekt besser passt. Wir geben darüber hinaus durch Assoziierungen ausgewählten Wissenschaftler*innen in der Qualifizierung (Promotion, PostDoc) die Möglichkeit, am Austausch im Graduiertenkolleg teilzuhaben.
Frau Prof. Schönig, wir danken Ihnen sehr für das informative Gespräch!
Weitere Informationen zum Graduiertenkolleg erhalten Sie unter: www.gewohnter-wandel.de
Die BAUHAUS.INSIGHTS-Fragen zum Graduiertenkolleg »Gewohnter Wandel. Gesellschaftliche Transformation und räumliche Materialisierung des Wohnens« stellte der freischaffende Redakteur Franz Löbling.