Mit der Landtagswahl am 1. September endet für Thüringen das Superwahljahr 2024. Wie können Bürger*innen zum Wählen – und damit zur demokratischen Mitbestimmung – motiviert werden? Dazu haben sich in diesem Jahr Institutionen und Initiativen verstärkt Gedanken gemacht. So auch zwei Professuren des Studiengangs Visuelle Kommunikation der Fakultät Kunst und Gestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar.
Im Sommersemester haben Lehrende der Professuren Bild-Text-Konzeption und Crossmediales Bewegtbild Studierende dazu eingeladen, im groß angelegten Projektmodul »Democrazy?« Kampagnen-Formate und Filme zu entwickeln, die zum Wählen aufrufen – mit dem ganz konkreten Ziel, die Wahlbeteiligung in Thüringen zu erhöhen. Zusammengetan haben sie sich dafür mit der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Zur summaery waren die Ergebnisse drei Tage lang in Weimars Einkaufszentrum Atrium zu sehen.
Wir möchten wissen, wie unterschiedlich die Studierenden an die Aufgabe herangetreten sind, welche Herausforderungen der politische Kontext gebracht hat und natürlich auch, für welche der Kampagnen sich die Landeszentrale für politische Bildung entschieden hat. Dazu haben wir Masihne Rasuli im Rahmen unserer Serie BAUHAUS.INSIGHTS für das BAUHAUS.JOURNAL ONLINE befragt. Die künstlerische Mitarbeiterin an der Professur Bild-Text-Konzeption hat das Modul gemeinsam mit Prof. Burkhart von Scheven sowie Prof. Jakob Hüfner und Nele Seifert von der Professur Crossmediales Bewegtbild geleitet.
Frau Rasuli, aus welcher Motivation heraus haben Sie zu viert das Projektmodul entwickelt?
Die Demokratie in Deutschland steht derzeit vor großen Herausforderungen. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist das Vertrauen in die Demokratie insgesamt zwar stabil, aber es tun sich Brüche auf: Durch Krisen wie die Corona-Pandemie und den Angriff auf die Ukraine gewinnen Bewegungen an Zulauf, die die Demokratie als Staatsform offen infrage stellen. Die weltpolitische Lage ist so komplex geworden, dass sich Menschen mitunter einfache und schnelle Lösungen wünschen – dass die Demokratie aber langsamer arbeitet und bei demokratischer Beteiligung aller mit Kompromissen zu rechnen ist, scheint zum Teil nicht mehr akzeptiert zu werden. Diese Unzufriedenheit äußert sich unter anderem durch bewusste Nichtbeteiligung an Wahlen, 2019 bei der Landtagswahl waren das beispielsweise 35 Prozent. Auch die demokratische Diskussionskultur hat sich verändert: Meinungen werden immer häufiger lautstark abgelehnt oder ignoriert, anstatt sachlich zu diskutieren. Das Internet bietet die Möglichkeit, anonym zu pauschalisieren, zu verunglimpfen und zu hetzen. Wütende Bürger*innen tauchen vor den Privathäusern von Politiker*innen auf und Wahlkämpfer*innen werden gewaltsam attackiert.
Diese Angriffe auf die Demokratie und das Thüringer Superwahljahr 2024 rückten das Thema unweigerlich in meinen und unseren Fokus. Durch Gespräche im Vorfeld haben wir herausgefunden, dass sowohl die Professur Bewegtbild als auch die Professur Bild-Text-Konzeption in diesem Sommersemester das Thema Demokratie behandeln wollten – es lag also auf der Hand, dafür die Kräfte zu bündeln und ein gemeinsames Projekt anzubieten. Als Universität sind wir eine überparteiliche Einrichtung, daher richteten wir unseren Blick nicht auf parteipolitische Inhalte, sondern auf den Stand der Demokratie im Allgemeinen, insbesondere auf die Wahlbeteiligung. Mit der Landeszentrale für politische Bildung (LZT) hatten wir dann einen Kooperationspartner, der den konkreten Wunsch äußerte, von uns entwickelte Filme und Kampagnen zur Erhöhung der Wahlbeteiligung im Vorfeld der Landtagswahl auszuspielen.
Vor dem praktischen Teil haben Sie zunächst demokratische Prozesse beleuchtet und die Frage aufgeworfen, warum sich immer weniger Menschen an Wahlen beteiligen, obwohl sie sich gleichzeitig mehr Mitsprache wünschen. Welchen Einfluss hatten die Erkenntnisse auf die Arbeiten der Studierenden?
Zu Beginn des Projektes haben wir eine Exkursion ins Haus der Weimarer Republik unternommen, um zu erfahren, wie 1919 in Weimar die erste demokratische Verfassung für Deutschland erarbeitet wurde. Eine spannende Erkenntnis war, dass bei der Wahl zur Nationalversammlung immens aufwändige Maßnahmen ergriffen wurden, um allen Wahlberechtigten ihr Recht zugänglich zu machen – zum Beispiel wurde die Wahlurne zu Kriegsinvaliden nach Hause gebracht. Die Wahlbeteiligung 1919 lag am Ende bei 83 Prozent.
Im Plenum hatten wir Ralf-Uwe Beck, Bundessprecher des Vereins Mehr Demokratie e.V., zu Gast, der einen beeindruckenden Vortrag zu den Entwicklungen der direkten Demokratie in Thüringen hielt. Er war als Aktivist entscheidend daran beteiligt, dass in der Thüringischen Verfassung die direkte Demokratie auf kommunaler Ebene eine starke Position erhält. Beispielsweise braucht es nur 300 Unterschriften, um als Einwohner*in ein Thema auf die Tagesordnung eines Gemeinderates zu bringen. Herr Beck vermittelte uns eindrücklich, welche Rechte die Demokratie jedem Einzelnen zur Verfügung stellt – und dass ihre Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist und Beteiligungsprozesse stetig verbessert werden können.
Zuletzt haben die Studierenden selbst Feldforschung betrieben: Per Zufall wurden Orte in Thüringen ausgewählt, und Zufall bedeutete in diesem Fall einen Dartpfeil auf eine Thüringen-Karte zu werfen. Die Studierenden fuhren in kleinen Teams in die Orte und befragten Einwohner*innen zu ihrer Einstellung zu den anstehenden Wahlen. Das Ergebnis dieser Mini-Stichprobe blieb gemischt: Von völligem Desinteresse gegenüber den Wahlen über Misstrauen bis zu Enthusiasmus war alles vertreten. Gleichzeitig traten interessante Geschichten zutage, zum Beispiel, dass manche kleine Dörfer nicht über eigene Wahllokale verfügen und die Einwohner*innen quasi geschlossen zur Wahl ins Nachbardorf pilgern. Erkenntnisse dieser Vorarbeit waren, dass sich unsere Kampagnen auf jeden Fall nicht nur auf Social Media beschränken durfte, sondern dass wir multimediale Formate entwickeln mussten, die auch im öffentlichen Raum, als Mailings und in Guerilla-Strategien funktionieren, um eine breite Zielgruppe zu erreichen. Die Geschichte vom Dorf, das zum Wahllokal pilgert, inspirierte zur Kampagne »Mit wem gehst du zur Wahl?« und bei den Touren aufs Thüringer Land entstand die Idee, Thüringer Wahlhelfende zu portraitieren. Unser Gast Ralf-Uwe Beck begeisterte mit seinem Wissen zur Demokratie und seinem Hintergrund als DDR-Bürgerrechtler so sehr, dass die Studierenden später noch ein Interview mit ihm filmten.
Mit welchen Ideen versuchen die Studierenden in ihren Kampagnen, Menschen zum Wählen zu motivieren?
Die Kampagne »Mit wem gehst du zur Wahl?« arbeitet mit der simplen Methodik, die Teilnahme an der Wahl von vornherein als selbstverständlich wahrzunehmen. Es stellt sich gar nicht die Frage, ob man wählen geht, sondern nur mit wem. Diese Frage wird in einer Serie von Animationen und Plakaten beantwortet, die ungewöhnliche Paarungen beim Wahlgang zeigen, zum Beispiel eine skateboardende Oma und ihre Enkelin. Dafür arbeitet die Kampagne mit Collage-Illustrationen, mit denen sich diese Vielfalt in abstrakter und humorvoller Weise ausdrücken lässt. Postkarten mit den Kampagnen-Motiven können verschickt werden, um sich für ein Wahl-Date zu verabreden. Die Kampagne soll subtil vermitteln, dass demokratische Beteiligung nicht nur Pflicht, sondern Privileg ist – und dass sie ein soziales Erlebnis darstellt, das wir gemeinsam gestalten.
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(c) Paula Gerharz, Sebastian Günter, Kevin Kulke, Philipp Merschkötter
Die Kampagne »Die eine Wahl, die wirklich zählt« fußt auf einem interessanten Insight: In der Hirnforschung wurde festgestellt, dass Menschen täglich ca. 20.000 Entscheidungen treffen. Die meisten davon sind vergleichsweise banal, also »Steige ich vorne oder hinten in den Bus ein?« oder »Zahle ich bar oder mit Karte?«. Diese Entscheidungen bleiben meist ohne längerfristige Konsequenzen – im Gegensatz zur Wahlentscheidung, die die politische Landschaft für mehrere Jahre beeinflusst. Indem sie auf die unzähligen trivialen Entscheidungen des Alltags verweist, hebt die Kampagne die Relevanz der Entscheidung an der Wahlurne hervor. Die Kampagne findet neben Reels und Plakaten auch über Interventionen im öffentlichen Raum statt: Hier werden die banalen Alltagsentscheidungen visuell markiert, sodass man quasi darüber stolpert. So findet man im Treppenhaus der Uni beispielsweise die Frage: »Fahrstuhl oder Treppe?« und dann die Auflösung »Triff die Wahl, die wirklich zählt: am 1.9.«.
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(c) Leonie Arens, Annika Daub, Lea-Sophie Groß, Antonia Pfadenhauer
Der Wahl-Spot »Keine Angst vorm Kreuz« arbeitet mit Übertreibung. Es werden verschiedene Situationen gezeigt, in denen Menschen eine Phobie vor Kreuzen entwickeln – beispielsweise beim Anblick von Einkaufslisten, Verkehrsschildern oder Tastaturen. Diese überspitzte Darstellung soll auf die sinkende Wahlbeteiligung aufmerksam machen und verdeutlichen, wie unbegründet Hemmungen vor dem Wählen sind. Werbespots und Kommunikationskampagnen sind natürlich dafür konzipiert, möglichst schnell zu funktionieren und ihre Botschaft in sehr kurzen Narrativen zu vermitteln. Daher bilden die entstandenen Dokumentationen eine großartige Ergänzung zu den Kampagnen, weil sie inhaltlich tiefer gehen können.
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(c) Lucian Engelbrecht, Max Tillack, Klaus Merbach, Eric Beck, Nino Schmidt, Luisa Raduenz, Aaron Möbius, Tillmann Böhnke, Alexander Scharf, Rebecca Hilbel, Alaina Nugnis, Philine Vogelsang, Pia Blasius, Moritz Lang, Marcel Sänger, Jonas Turtschan, Dominik Kämmer, Louis Czauderna
Der Film »Wahllokal 37 – die Auszählung« begleitet Weimarer Wahlhelfer*innen bei ihrem ehrenamtlichen Einsatz zur Europawahl. Der Film lässt uns teilhaben an einem Teil des Wahltages, der für viele unsichtbar bleibt, aber am Ende absolut entscheidend ist. Er zeigt, mit welcher Präzision und Gewissenhaftigkeit demokratische Wahlen durchgeführt werden und welchen Einsatz viele Freiwillige für den korrekten Ablauf zeigen.
(c) Johann Knösel, Philine Vogelsang, Rodrigo Xavier
Sehr berührend sind die filmischen Interviews mit Birgit Krüger und Ralf-Uwe Beck; letzterer war, wie schon erwähnt, zu Gast in unserem Projektplenum. Die beiden berichten als Zeitzeugen von ihren persönlichen Erfahrungen mit einem nicht demokratischen System: dem der DDR. Birgit Krüger wurde 1977 in der DDR inhaftiert, weil sie einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Sie verbrachte elf Monate im Gefängnis, getrennt von ihren Kindern, bevor sie von der BRD freigekauft wurde. Ralf-Uwe Beck war in der DDR Pfarrer und in der Umweltbewegung aktiv. Er schildert im Interview sein Leben in der Nähe der schwer gesicherten innerdeutschen Grenze, seinen Kampf gegen die Ungerechtigkeiten des Regimes und die Aufbruchstimmung nach dessen Ende mit all ihren Hoffnungen und verpassten Chancen. Diese Gespräche zeigen, wie unmenschlich nicht-demokratische Regimes agieren, wie wertvoll die Errungenschaften der Demokratie sind und dass demokratische Beteiligung auch heute noch errungen wird.
(c) Johann Knösel, Philine Vogelsang, Rodrigo Xavier
Welche Herausforderungen haben Sie bei den Studierenden beobachtet?
In Kommunikationskampagnen gilt es, die Message eindringlich und unkompliziert zu vermitteln und dabei den richtigen Ton zu treffen. Das bedeutet zunächst einmal eine Herausforderung im Texten; dabei müssen einfach viele Varianten geschrieben und getestet werden. Im nächsten Schritt gilt es dann, die Botschaft mit einer ausdrucksstarken und wiedererkennbaren Gestaltung zu verbinden. Hierbei ist wichtig, verschiedene Formate mitzudenken: Funktioniert die Visualität im Print, im Web, im Bewegtbild, im öffentlichen Raum gleich gut? Ein weiterer Anspruch ist es natürlich, eine möglichst ungesehene Gestaltung zu entwickeln, die in der medialen Bilderflut heraussticht. Das verlangt von den Studierenden viel Hartnäckigkeit, denn die Entwürfe müssen wiederholt verändert und manchmal von Grund auf neu erarbeitet werden.
Bei den entstandenen Dokumentarfilmen bestanden die Herausforderungen zum einen in einer feinfühligen Interviewführung, denn es wurden zum Teil sensible persönliche Erfahrungen thematisiert. Zum anderen muss beim filmischen Dokumentieren in begrenzter Zeit qualitätsvolles Bild- und Tonmaterial gesammelt werden – ohne die Möglichkeit einer Wiederholung. Generell erfordern Filmdrehs viel technisches und logistisches Know-How, was die Studierenden durch gute Teamarbeit und mit Unterstützung durch uns Lehrende wunderbar zusammenbringen konnten.
Die Kampagnen-Formate und Filme wurden für die Landeszentrale für politische Bildung entworfen. Wir sind natürlich neugierig: Können Sie uns schon verraten, welche Kampagnen ausgespielt werden? Und welchen Einfluss hatte die Zusammenarbeit auf die Studierenden?
Die Landeszentrale für politische Bildung möchte alle entstandenen Kampagnen über ihre Social-Media-Kanäle spielen. Einzelne Spots sollen zudem in Thüringer Kinos laufen. Die Kampagne »Mit wem gehst du zur Wahl?« wird von der Bauhaus-Universität Weimar selbst weiter gestreut. Die Kampagne »Die Wahl, die wirklich zählt« wird in Form von kleinen Interventionen im öffentlichen Raum in Weimar zu sehen sein, unter anderem in der Brotklappe. Wir freuen uns außerdem, dass die LZT bei den Kampagnen unser Logo-Redesign verwenden wird. Wir haben zu Beginn des Gestaltungsprozesses festgestellt, dass das aktuelle Logo der LZT in die Jahre gekommen ist und das Anliegen der Einrichtung nicht angemessen kommuniziert. Daher war die erste Aufgabe für die Studierenden, ein neues Corporate Design für die LZT zu entwerfen. Demokratisch wurde dann ein Entwurf gewählt, der während der summaery zur Anwendung kam. Dieses Logo konnte die LZT so überzeugen, dass es in den Wahlkampagnen verbleibt.
Ob die LZT ihr Logo dauerhaft verändern möchte, lässt sich momentan noch nicht sagen. Wir haben aber signalisiert, dass wir in diesem Fall die Studierenden bei der Ausarbeitung unterstützen würden. So würden die Studierenden nicht nur die Möglichkeit bekommen, eine größere Plattform für ihre Kampagnen zu erhalten, sondern vielleicht sogar das Erscheinungsbild des Klienten nachhaltig zu prägen – aber das ist noch offen. Insgesamt wurde uns bei der Zusammenarbeit viel kreative Freiheit gewährt, was für die Studierenden natürlich eine positive Erfahrung ist, vor allem weil sie im späteren Berufsalltag wesentlich seltener auftreten wird.
Weitere Informationen: Auch über die offiziellen Social Media-Kanäle der Universität werden wir in den nächsten Wochen mit Studierendenarbeiten aus dem Projektmodul »Democrazy?« dazu aufrufen, bei der Landtagswahl am 1. September 2024 wählen zu gehen.
Instagram: @bauhaus_uni | LinkedIn: www.linkedin.com/school/bauhausuni
Die BAUHAUS.INSIGHTS-Fragen zum Projektmodul »Democrazy?« stellte Marit Haferkamp in Zusammenarbeit mit Luise Ziegler.
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