Laurien Wüst

Projekttitel

Der Mechanismus der Freiheit: zum Verhältnis von Gewohnheit und Zerstreuung (Arbeitstitel)

Projektbeschreibung

Die Gewohnheit ist eine der großen begrifflichen Wiederentdeckungen der zeitgenössischen praktischen Philosophie. Der Begriff der Gewohnheit verspricht, menschliche Freiheit als eine praktische Errungenschaft durch soziale Teilnahme und damit jenseits abstrakter Begründungsmodelle wie Recht und Moral zu verstehen. Die Gewohnheit ist von einer tiefen Paradoxie bestimmt: sie befähigt das Subjekt, indem es zum Träger von Fähigkeiten wird und unterwirft es gleichzeitig, indem sie von seinem reflexiven Zugriff automatisiert ablaufende Prozesse des Wahrnehmens, Verstehens und Tuns hervorbringt. Nun stehen die philosophischen Ansätze, die Motive aus den Feldern des Ästhetischen und des Politischen geltend machen, vor dem Problem, dass sie kaum verständlich machen können, wie die Unterbrechungsstrategien die Kraft haben sollen, die Gewohnheitssubjektivität nicht nur punktuell zu irritieren und also zu restabilisieren, sondern grundsätzlich zu transformieren.
Der Einsatzpunkt des Dissertationsprojektes besteht deshalb in der Frage, ob die Gewohnheitssubjektivität selbst eine Art von Überschüssigkeit besitzt, die über die subjektivierungstheoretische Aporie von Befähigung und Unterwerfung hinausweist. Tatsächlich findet sich bei Hegel ein solches Motiv, wenn er die Leistung der Gewohnheit nicht primär im Erwerb von Fähigkeiten, sondern in der Herausbildung einer Form von Indifferenz beziehungsweise Interesselosigkeit verortet, durch die das Subjekt sich gerade für neue Formen der Rezeption und der Aktivität öffnet. Wie lässt sich die Produktivität der Indifferenz der Gewohnheit beschreiben? Und wie kann die Indifferenz in der Gewohnheit so wirksam werden, dass sie den lähmenden und unfrei machenden Formen von Indifferenz — dem „geistigen Tod“ (Hegel) durch Gewohnheit — zu widerstreiten die Kraft hat?
Auf diese Fragen antwortet das Projekt, indem es zwei unterschiedliche Perspektiven miteinander in Beziehung setzt: Hegels Beschreibung der Gewohnheit als produktive Indifferenz auf der einen und Walter Benjamins medienästhetische Überlegungen zum Begriff der Zerstreuung auf der anderen Seite. In der Verknüpfung beider Perspektiven soll die Figur einer Produktivität der Indifferenz nicht nur plausibel, sondern darüber hinaus — im Besonderen durch den Rückgriff auf Benjamins Medienästhetik der Zerstreuung — gezeigt werden, wie diese Form der Indifferenz eine konkrete Wirksamkeit innerhalb der Gewohnheitssubjektivität zu entfalten in der Lage ist.

Vita

Laurien Simon Wüst hat an der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Bachelor Politikwissenschaften und Philosophie (Abschluss 2017) und im Anschluss Philosophie im Master in Frankfurt sowie an den Universitäten École normale supérieure/École des hautes études en sciences sociales in Paris studiert. Mit einer Arbeit zum Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft bei Hegel im Lichte gegenwärtiger neoliberaler Sozialpolitik schloss er sein Masterstudium der Philosophie im Jahr 2021 an der Goethe-Universität bei Prof. Marina Martinez Mateo und Prof. Christoph Menke ab. Parallel zum Studium arbeitete er als Tutor diverser Einführungsveranstaltungen in der Philosophie, Philosophiegeschichte und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie als Hilfskraft bei der Hilfs- und Gesundheitsorganisation medico international e.V.. Zu seinen Forschungsinteressen zählen vor allen Dingen die Bereiche Sozialphilosophie und philosophische Ästhetik. Seit April 2023 führt er sein in Frankfurt am Main begonnenes, von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördertes Promotionsprojekt zum Verhältnis von Gewohnheit und Zerstreuung im Anschluss an Hegel und Walter Benjamin als wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Graduiertenkollegs „Medienanthropologie“ an der Bauhaus-Universität Weimar fort.