Mirko Beckers

Projekttitel

Moralische Phantasie im Anthropozän (Arbeitstitel)

Projektbeschreibung

Im Zentrum meines Projektes steht die Beobachtung eines Gefälles: Die Menschheit gelangt in den letzten Jahren unter dem wachsenden Druck ökologischer Krisen zwar immer mehr zu der Einsicht, vor einem gewaltigen Gestaltungsbedarf sozialen Wandels zu stehen, hinter dieser Einsicht bleibt aber das Gestaltungsvermögen zurück – im Angesicht der Notwendigkeit, gegenüber dem drohenden Klimakollaps zu handeln, werden die Veränderungen als unzureichend oder gar fehlend beklagt.

Vor dem Befund eines solchen Gefälles stand auch der Philosoph und Soziologie Günther Anders: Von der Totalvernichtungskraft der Atombombe blieben die Menschen seiner Meinung nach emotional unberührt. In seiner medien- und technikanthropologischen Suchbewegung nach den ursächlichen Strukturen des menschlichen Reaktionsversagens stellt er die These auf, dass der Mensch historisch an einem Punkt angekommen sei, der einer ontologischen Zäsur gleichkäme: Die menschlichen Vorstellungs- und Gefühlsvermögen bleiben gegenüber der Herstellungskraft zurück; der Mensch sei unfähig, sich die Auswirkungen seines Tuns kognitiv oder emotional vorzustellen und es mangle ihm an Katastrophensensibilität, weswegen er geradezu apokalypse-blind, -taub und -stumm sei.

Als zeitgemäße Aufgabe fordert er die Ausbildung einer „moralischen Phantasie“ und plädiert für medial vermittelte und gezielte „Exerzitien“, um die abgehängten Vorstellungs- und Gefühlsleistungen des Menschen zu rehabilitieren und die gewohnten Phantasie- und Gefühlsleistungen bewusst zu überdehnen. So würden „moralische Streckübungen“ trainiert werden, durch die versucht werden könne, das fehlende Gefühl für unseren neu errungenen medialen Wirkradius und die damit einhergehende Zerstörungskraft einzuholen.

Diesen programmatisch-konzeptionellen Vorschlag möchte ich in meinem Projekt unter den Bedingungen des Anthropozän-Diskurses kritisch rekonstruieren und theorievergleichend aufarbeiten. Einerseits wird dadurch das Anthropozän medienanthropologisch als eine anthropomediale Kondition beschreibbar, wodurch auch die medialen Effekte diskursiv hervortreten; andererseits – demgegenüber – wird das thetische Konzept der moralischen Phantasie kritisch auf seine Anschlussfähigkeit als eine gesellschaftskritische Epistemologie und Ethik mit Handlungsanweisungen befragt und reflektiert.

Vita

Mirko Beckers studierte Gesellschaftswissenschaften an der RWTH Aachen im Bachelor und interdisziplinäre Anthropologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. im Master. Seine Masterarbeit schrieb er zur Veränderung der Mensch-Wirklichkeits-Beziehung im Rekurs auf die Medienanthropologie Günther Anders' bei Prof. Dr. Ulrich Bröckling und Prof. Dr. Oliver Müller. Neben und nach dem Masterstudium war er Studentische und später Wissenschaftliche Hilfskraft sowohl im Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierung – Heroismen“ als auch am Lehrstuhl für Kultursoziologie bei Prof. Dr. Ulrich Bröckling. Seit April 2023 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Graduiertenkolleg Medienanthropologie der Bauhaus-Universität Weimar.