In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12. April 2020 publiziert Dr. Christoph Engemann, Postdoc Gesellschaft & Digitalisierung an der Professur Theorie medialer Welten, eine politische und medientheoretische Einordnung von Corona-Tracing-Apps. Lesen Sie hier den gesamten Artikel:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.04.2020, Feuilleton, Seite 40:
Die Contact-Tracing-Apps zur Corona-Bekämpfung, die in den kommenden Wochen europaweit eingeführt werden sollen, werden bereits als ein Aushängeschild europäischer Werte gefeiert. Anders als in China, Korea und Singapur würden diese Apps den Datenschutz und die Freiheitsrechte der Bürger wahren. Die Anonymisierung der Daten, deren kryptographischer Schutz, ihre treuhänderische Speicherung sowie die Verwendung der jeweiligen Kontaktdaten in engbegrenzten medizinisch und epidemiologisch sinnvollen Kontexten sollen zeigen, dass diese Apps nicht im Interesse der Überwachung, sondern im Interesse des Schutzes und der Gesundheit der Bürger gestaltet wurden.
Den Grundprinzipien des Datenschutzes - Zweckbindung, Verhältnismäßigkeit, Datensparsamkeit und der Kontrolle der Bürger über ihre Daten - möchten diese Apps und ihre Infrastrukturen geradezu vorbildlich entsprechen. An diesem Modell, so ist nicht nur zwischen den Zeilen zu vernehmen, lässt sich die Zukunft digitalen Regierens in Europa ablesen. Gegenüber den Ängsten vor einer digitalen Überwachungstotalität, die wahlweise als ein neoliberaler, aber im Herzen marktfreier Überwachungskapitalismus daherkommt oder als digitale Autokratie gefürchtet wird, werde hier ein dritter Weg digitalen Regierens sichtbar.
Das mag stimmen. Aber für die politische Bewertung und kollektive Entscheidungsfindung über diese neue Medialität des Regierens ist ein genauerer Blick über diese spezifischen Corona-App-Infrastrukturen hinaus nötig. Das zeitgenössische Regieren, das sich hier ankündigt, erzeugt und bearbeitet Sozialität in und mit medialen Arrangements, die selbst politisiert werden müssen.
Eine dabei im Raum stehende Frage ist diejenige nach der Bedeutung der sozialen Netzwerke und ihrer Medien für das Regieren. Die medientechnische Grundlage für soziale Netzwerke sind sogenannte Graphen. Es handelt sich um ein 250 Jahre altes, vom Schweizer Mathematiker Leonhard Euler erfundenes mathematisches Verfahren, mit dem Elemente und ihre Beziehungen beschreib- und berechenbar gemacht werden können. Euler selbst hat dieses Verfahren nicht auf Netze angewandt, aber Netze beliebiger Art, ob Netze von Computern, Telefonen oder Beziehungsnetze von Menschen können mit Graphen ausgewertet werden. Was umso einfacher vonstattengehen kann, wenn Menschen kleine Computer besitzen und ständig mit sich rumtragen. Denn um Beziehungsnetze auszuwerten, braucht es Informationen darüber, wer mit wem Kontakt hatte. Bevor Computer beziehungsweise Mobiltelefone dies für menschliche Beziehungsnetzwerke vereinfachten, wurden solche Informationen händisch über Fragebögen erhoben. Tatsächlich hat eine der größten Revolutionen der Graphenmathematik einen sozialpsychologischen Ursprung. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts haben Alex Bavelas und Harold Leavitt, Schüler des vor dem Nationalsozialismus geflüchteten Gestaltpsychologen und Mitbegründers der Sozialpsychologie Kurt Lewin, am MIT versucht, die informelle Kommunikation zwischen Arbeitnehmern in Betrieben formal beschreibbar zu machen. An Gruppen von italienischen Näherinnen in Kleidungsfabriken konnten sie zeigen, dass die formalen Hierarchien der Betriebe oft überhaupt nichts mit den tatsächlichen Kommunikationsströmen zu tun hatten. Vielmehr waren in den Näherinnengruppen diejenigen Frauen entscheidend, die am besten Englisch sprechen konnten. Bavelas und Leavitt entwickelten daraufhin am MIT clevere Versuchsanordnungen, um solche Situationen nachstellen zu können. Aus diesen Versuchen entstand das Konzept der Zentralität, das eine mathematische Beschreibung der relativen Position einer Person in einem sozialen Netzwerk angibt. Graphen erhielten damit eine neue Form der Berechenbarkeit, da diese Maße es ermöglichten, jedes Element eines Netzes hinsichtlich seines Einflusses auf die Kommunikation zu bewerten.
Zentralitätsmaße sollten über einige Umwege gut fünfzig Jahre später zu dem führen, was wir heute als Google, Facebook und Amazon kennen - Firmen, die, wie die Unternehmensberatung Gartner 2012 in einem Report beschrieben hat, jeweils einen ökonomisch wichtigen Graphen monopolisiert haben. Facebook hat, wie Mark Zuckerberg es selbst 2008 genannt hat, den "Social Graph" monopolisiert. Inzwischen umfasst dieser 2 Milliarden Menschen. Amazon hat mit einem Buchgraphen angefangen und kontrolliert jetzt für weite Teile der Welt den Konsumtionsgraphen, also ein Netzwerk aller Produkte und ihrer möglichen Käufer. Google, deren Gründer Sergey Brin und Larry Page 1998 ein Paper mit einer trickreichen Variation eines aus den fünfziger Jahren stammenden Zentralitätsmaßes vorgelegt hatten, bauten auf diesem eine Suchmaschine auf, die einen Graphen aller Websites erzeugt. Man könnte diese Liste fortsetzen: AirBnB hat einen Graphen von Ferienwohnungen und Touristen, und derzeit erleben wir, wie Uber versucht, den Mobilitätsgraphen zu monopolisieren.
Plattformen, so könnte man formulieren, sind Resultat der erfolgreichen Monopolisierung eines Graphen. Facebook gehört inzwischen nicht nur ein Social Graph, sondern hat mit Instagram und Whatsapp zwei weitere wichtige Graphen akquiriert, die intern aufeinander abgebildet werden können. Für Werbekunden ist das faktisch der Fall, können diese doch über ein Interface Nutzer auf Instagram und Facebook gleichzeitig mit Werbeanzeigen ansprechen. Das vom ersten Facebook-Financier Peter Thiel gegründete Unternehmen Palantir schließlich ist eine Firma, die Graphen-Analysen im Tausch gegen die Daten ihrer Kunden anbietet und die dabei entstehenden Graphen akquiriert und wahrscheinlich intern in einen Metagraphen integriert.
Es gibt aber neben dieser etwa seit dem Jahr 2000 zu beobachtenden ökonomischen Erfolgsgeschichte von Graphen noch eine zweite, weniger sichtbare Geschichte von dem, was man Graphen-Nahmen nennen könnte. Diese Geschichte ist durch die Veröffentlichungen von Edward Snowden und durch Aussagen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters William Binney ans Licht gekommen. Graphen, so ist insbesondere in der Anhörung von Binney im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags 2013 deutlich geworden, wurden bereits seit 1998 von der NSA als strategisches Asset angesehen. In der sehr lesenswerten Transkription von Binneys Erläuterungen vor dem Ausschuss schildert er die Dimension und den Anspruch dieser Graphen-Nahme: "all of the data taken (...) in what we call a graph - a social network of the world." Die über die Abhörung von möglichst allen Telekommunikationsereignissen weltweit zusammenlaufenden Daten werden offenbar von der NSA in einen Graphen überführt. In diesem werden mit viel Aufwand aus der Vielzahl von technischen Adressen und Informationen Netzwerke von Personen extrahiert. Eine einzelne Person wird dabei als ein Knoten dargestellt, von dem sogenannte Kanten abgehen. Die Kanten sind dabei Beziehungen zu anderen Personen, wie sie durch E-Mails, Anrufe, Aufenthalt am selben Ort und so weiter geschlossen werden können. Auf dieser Grundlage können aus der Netzwerksoziologie übernommene Algorithmen Gruppen und Gemeinschaften identifizieren. Mit den Anschlägen von 9/11 wurde diese Medientechnologie der Graphen-Analyse zum wichtigsten Instrument des War on Terror. Wahlweise "Link Analysis", "Social Network Analysis" oder "Dark Network Analysis" genannt, wurden Terrorgruppen als Communities in sozialen Netzwerken modelliert, um deren Mitglieder zu überwachen und gezielt zu töten.
In der ersten Dekade der 2000er entstanden an den amerikanischen Militärakademien, aber auch weltweit eine Vielzahl von Arbeiten und Veröffentlichungen, die einerseits Algorithmen und Modelle vorschlagen, mit denen Graphen im War on Terror nutzbar gemacht werden können. Andererseits wird die Frage gestellt, was diese Verfahren doktrinär bedeuten und welche Begriffe geeignet sind, diesen neuen Schauplatz des Krieges - die über Kommunikationsereignisse lesbare Sozialität - zu fassen. Die US-Army hatte in diesem Zusammenhang ein kurzlebiges und weitgehend gescheitertes Projekt namens "Human Terrain System" aufgelegt. Der Begriff zeigt an, dass hier die Sozialität selbst der Manöverraum militärischer Intervention wird: Feuer und Bewegung orientieren sich nicht an topologischen Eigenschaften des Geländes wie Sichtachsen, Barrieren, Erhebungen und Hindernissen, sondern an den sozialen Beziehungen, wie sie graphenbasierte Netzwerkanalysen zur Darstellung bringen.
Die Drohnen, die in der allgemeinen Vorstellung als fliegende Kameras mit Raketen imaginiert werden, spielen in dieser Konstellation eine wichtige Rolle. Es sind dabei aber gerade nicht die Kameras und die Video-Feeds, die entscheidend sind, vielmehr sind Drohnen in erster Linie fliegende Mobilfunkmasten. Sobald eine Drohne in ihrer Reichweite ist, nehmen Mobiltelefone mit ihr Kontakt auf und geben so unfreiwillig ein Bild darüber ab, wer wann mit wem redet.
Was der etwas hilflose Begriff des "Human Terrains" einer noch am Boden klebenden Waffengattung anzeigt, ist, dass eine Raumrevolution stattgefunden hat. Carl Schmitt hatte den Begriff der Raumrevolutionen für die Effekte neuer technischer Mittel, die neue Räume und damit neue Formen der Ortung und Ordnung erzeugen, vorgeschlagen. Es waren das Flugzeug und später die Erschließung des Weltraums, von deren historischen Auftreten Schmitt Zeuge war, die für ihn die Raumrevolution des 20. Jahrhunderts darstellten und die Ordnungsansprüche der Unterscheidung ,mein Land' und ,dein Land' herausforderten. Ebensolche Landnahmen wollte er als historische Quelle des Rechts verstanden wissen. Es hat nicht an Kritik an dieser Konstruktion einer unhintergehbaren Ontologie des Rechts gefehlt, deren historischer Index nicht zuletzt eine wenig subtile Legitimation des "Blut und Boden"Denkens darstellte. Medienwissenschaftlich gewendet, lässt sich Schmitts Modell als Frage des Verhältnisses von Medientechnologien und Räumen lesen, in der politische Geschichte, Medien und Raumgeschichte untrennbar verschränkt sind.
Usama Bin Ladin hatte kein Telefon und kein Mobiltelefon benutzt. Dieser Verzicht hatte ihn beinahe eine Dekade lang geschützt. Bis in Graphen-Analysen auffiel, dass bestimmte Handynutzer im Umkreis von 50 Kilometern eines Ortes ihre Handys ausschalteten und so eine auffällige Leerstelle anzeigten. Das Beispiel Bin Ladin illustriert, dass es wenig sinnvoll ist, Handys abzuschalten, um der Überwachung zu entgehen, es sei denn, eine ganze Population schaltet ab. Aus Graphen lassen sich auch mit relativ begrenzten Informationen relativ komplexe Bilder über die sozialen Dynamiken von Gruppen und Populationen ableiten.
In der Befragung von William Binney hat niemand der anwesenden Bundestagsmitglieder nachgefragt, was ein Graph eigentlich genau ist. Die politische Bedeutung von Graphen als über die Zeit stabile Abstraktionen von Gruppen und ganzen Bevölkerungen ist offenbar noch wenig verstanden worden. Was im derzeitigen corona-bedingten Digitalisierungsschub erlebbar wird, ist ein Probelauf von digitalisierten Gesellschaften, die sich digitaler Medien und der Bedeutung von deren Regierbarkeit bewusst werden müssen. Dazu gehört die Einsicht, dass digitale Gesellschaften längst Teil von Graphen sind, die häufig anderenorts monopolisiert worden sind. Das umfasst die Graphen-Nahmen anderer Nationen, die auf Grundlage schlicht ökonomischen Erfolgs, aber auch der Telekommunikationsüberwachung mittels Honeypots voller illegaler Inhalte oder über das schlichte Erzeugen und Beobachten von Nachrichtenkaskaden Informationen einsammeln und zu Graphen verdichten. Solche Kaskaden funktionieren am besten mit emotional stark affizierenden Inhalten: Klimawandel, Gender, Migration, Impfschäden und so weiter. Ob Polarisierung, Fake News oder Einflussnahme genannt, sind diese Verfahren immer auch soziale Lotungen, aus denen sich Graphen erstellen lassen, die zeigen, wer mit wem redet, wer mit wem nicht redet und wer über wen wann redet.
Das Versprechen der Corona-Tracking-Apps lautet, im Zusammenspiel mit der Ausweitung von Testung und Antikörpertests ein dynamisch skalierbares Quarantäne- und Mobilitätsmanagement umsetzen zu können. In einer solchen digitalisierten Gesellschaft ist das Medium der Freizügigkeit ein aus Kommunikationen gewonnener Raum. Im Unterschied zu den Apps aus Singapur, Korea und China erzeugen die für Europa diskutierten Tracking-Infrastrukturen vorerst keine Graphen, sie stellen dennoch die Frage nach der Raumpolitik digitaler Gesellschaften. Denn auch anonymisiertes und datenschutzkonformes Tracking basiert darauf, dass überall, wo Computer sind, selbst nicht bewusst wahrgenommene Begegnungen zu Kommunikation werden.
Der individuelle Datenschutz, wie er jetzt an den Corona-Apps spektakulär als europäisches Alleinstellungsmerkmal vorgeführt wird, bleibt unverzichtbar und muss ausgebaut werden. Aber erstens verengt dessen Fokus auf das Individuum als Subjekt des Datenschutzes den Blick. Die Diskussion um die digitalen Regierungsweisen sollte nicht nur auf die Individuen schauen, sondern die Sicht muss auf diejenigen Aggregate ausgeweitet werden, die digitale Medien aus Gruppen und Populationen von Individuen bilden. Der so intuitiv überzeugende wie inhaltsleere Begriff Big Data verdeckt dabei die Sicht auf Datenstrukturen wie Graphen, die ein und vielleicht das strategisch wichtigste Aggregat sind, mit dem derzeit bereits Geschäfte, Politik und Geopolitik gemacht werden. Zweitens - und daraus folgend - geben die Privacy-Vorkehrungen der Tracking-Apps zwar ein inspirierendes Modell ab, gehen aber dort, wo Graphen längst genommen sind, an der Realität ein Stück vorbei. Man kann unter Bedingungen von Graphen-Nahmen eben nicht mehr wissen, welcher Ortung und Ordnung man unterliegt. Informalität im Sinne einer Nichtlesbarkeit einer Situation durch Dritte ist nur noch über eine politische Entscheidung herbeizuführen. Das Private war nie politischer als heute.
Christoph Engemann ist Medienwissenschaftler und forscht zu Gesellschaft und Digitalisierung an der Bauhaus-Universität Weimar.
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