Adornos TV: Blackhead
Eine künstlerische Auseinandersetzung mit Theodor W. Adornos »Résumé über Kulturindustrie«
Nahezu jeden Tag hört man die lautstarken Beschwerden über die stetig nachlassende Qualität von Radio- und Fernsehprogrammen. Wo man früher gemeinsam mit der Familie vor dem Radioempfänger saß und Hörspielen von Orson Welles lauschte, werden wir nun rund um die Uhr durchdrungen von hochkomprimierten Poptiraden, der Resteverwertung der 80er, 90er und dem Besten von Heute und müssen uns plagen mit Shows, in denen der Bekanntheitsstatus der jeweiligen Prominenten am hinteren Ende des Alphabets gesucht werden muss. Wir kennen mittlerweile sämtliche Gerichte des australischen Dschungels und können voller stolz die Gewinner der letzten zehn Staffeln von »Deutschland sucht den Superstar« aufzählen, scheitern aber daran die Namen der Minister der von uns gewählter Bundesregierung aufzusagen. Armes Deutschland.
Und stets und ständig werden wir erschrocken von brüllend lauten Zäsuren und optischen Gewittern der Werbeindustrie in deren Universum wir 3-Sterne Luxusgourmets sind, mit Vorliebe für den perfekt gefärbten Haaransatz und die multimedial vollausgestattete Finca auf Sardinien, die man sich selbstverständlich leisten kann wenn man nur geil, geizig und bereit zum Auswandern ist.
Wir sind Konsumenten einer Industrie geworden, die uns voll und ganz vereinnahmt hat. Ein Zustand den Theodor W. Adorno bereits in seinem Essay »Résumé über Kulturindustrie« beschrieben hat und auf den ich im Folgenden eingehen und darauf aufbauend meine künstlerische Arbeit »Adornos TV: Blackhead« erläutern möchte.
Theodor Wiesengrund Adorno ist deutscher Philosoph und Soziologe. Er gilt als einer der Mitbegründer und Hauptvertreter der »Frankfurter Schule«, ebenso wie sein Kollege Max Horkheimer mit dem er zusammen in Frankfurt die »kritische Theorie« begründete.
Die »kritische Theorie« ist eine sozialphilosophische Denkrichtung des 20. und 21. Jahrhunderts und stellt sich der Analyse der kapitalistischen und bürokratischen Gegenwart, aufbauend auf Marx‘ Gedanken, wobei sie den Modernisierungsprozess in erster Linie als zunehmende Naturbeherrschung (Domestizierung) verstehen.
Sie sehen den Marxismus aber in seiner Analyse als verkürzt bzw. verzerrt und so unterziehen die Vertreter der kritischen Theorie, Adorno und Horkheimer, Marx einer Neuinterpretation. Während Marx die Kultur als Überbau oder auch als Spiegel der ökonomischen Verhältnisse beschreibt, sehen Adorno und Horkheimer die Kultur als Schlüssel für die Analyse zur postliberalen Gesellschaft. Ausgehend von dieser Annahme stellen Adorno und Horkheimer in ihrem 1947 veröffentlichtem Werk »Die Dialektik der Aufklärung« mehrere Fragestellungen, angefangen bei der ausgebliebenen Revolution des Proletariats, über die Frage nach der Vernichtung der Juden im zweiten Weltkrieg und wie die Gesellschaft dabei tatenlos zusehen konnte, bis hin hin zur Leitfrage der »Dialektik der Aufklärung«: »warum die Menschheit, anstatt an einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barberei versinkt.« (Horkheimer, Adorno 1944, 16)
Adorno und Horkheimer antworten darauf, dass die Ausgebeuteten nach und nach ihre in der Aufklärung erworbene Mündigkeit, Vorgänge und Prozesse zu reflektieren und zu kritisieren, verloren haben. In der Moderne sind sie total in den Prozess der gesellschaftlichen Reproduktion, zur Aufrechterhaltung und Weiterführung der Herrschaftsverhältnisse, integriert, sodass sie nicht mehr die Herrschaft kritisieren können. Daher findet trotz Ausbeutung keine Revolution statt. Als wichtigstes Werkzeug der Entmündigung der Menschen wird von Horkheimer und Adorno hierfür die »Kulturindustrie« genannt, die durch ihre Konsumgüter den Glauben verstärkt, dass die Gesellschaft so ist wie sie sein muss.
In ihrem Entwurf zur »Dialektik der Aufklärung« nutzten Adorno und Horkheimer noch den Begriff der »Massenkultur«, den Sie jedoch durch den Begriff der »Kulturindustrie« ersetzten, um zu verdeutlichen, dass es sich hierbei nicht um eine Kultur handelt, die von den Massen, wie zum Beispiel die »Volkskunst«, selbst gestaltet wird. Es handele sich vielmehr um eine »von oben« gestaltete und gesteuerte Kultur.
In seinem 1963 veröffentlichtem Essay »Résumé über Kulturindustrie« widmet sich Adorno den vorhergesagten Entwicklungen aus der »Dialektik der Aufklärung« und zieht Bilanz.
Nach Adorno ist Kulturindustrie nun wie folgt charakterisiert: »Kulturindustrie ist willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben« (Kursbuch Medienkultur, 1999: 202) und sie »[…] ist dadurch definiert, dass sie dem auratischem Prinzip nicht ein Anderes strikt entgegensetzt, sondern die verwesende Aura konserviert« (Kursbuch Medienkultur, 1999: 205).
Sie steht für die kommerzielle Vermarktung der industriell hergestellten Kultur und sorgt so für eine eine Transformation von Kultur und Kunst zur Ware. In diesem Sinne wird sie auch nicht, wie man es der Kultur oder Kunst gerne zuschreibt, spontan, sondern planvoll hergestellt und einzig und allein über ihren ökonomischen Wert definiert. Sie zwingt daher auch »hohe« und »niedere Kunst« zusammen, insofern sie der »hohen Kunst« ihre Ernsthaftigkeit nimmt und die »niedere Kunst« durch sie ihren autonom-radikalen Charakter verliert. So sind Qualität und Wahrheitsgehalt der Inhalte nicht länger wichtig, solange sie ihren Zweck erfüllen und der Kunde als Abnehmer der Kulturindustrie zum Objekt degradiert wird. (vgl. Kursbuch Medienkultur, 1999: 202)
Innerhalb des Begriffs der Kulturindustrie erläutert Adorno in seinem Résumé ebenso das »industrielle« in der Kulturindustrie, und sagt: »Der Ausdruck Industrie ist dabei nicht wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich auf die Standardisierung der Sache selbst […] und auf die Rationalisierung der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den Produktionsvorgang«. Die so zur Schau gestellte Individualität taugt demnach nur zur Verstärkung der Ideologie und ist nur dem Anschein nach »scheinbare Zufluchtsstätte von Unmittelbaren« und so behält die Kulturindustrie ihre Affinität zu dem veralteten Zirkulationsprozess des Kapitals, dem Handel. (vgl. Kursbuch Medienkultur 1999, 204)
Weiterhin beschreibt Adorno den Gesamteffekt der Kulturindustrie, unter Betrachtung der totalitären Regime in Europa, als den einer Anti-Aufklärung »[…] die fortschreitende technische Naturbeherrschung zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewusstseins« (Kursbuch Medienkultur, 1999, 208). Jedwede industriell hergestellte Kultur raubt dem Menschen demnach seine Fantasie und übernimmt für ihn das Nachdenken. Sie versucht die Bildung autonomer, selbstständiger und bewusst urteilender und sich entscheidender Individuen zu verhindern. Adorno schreibt hierzu »Anpassung tritt […] anstelle von Bewusstsein« (Kursbuch Medienkultur, 1999: 207). Die Medien manipulieren demnach die Konsumenten im Sinne einer Scheinaufklärung zur unterbewussten Ausrichtung auf die Linie des herrschenden Systems, sodass die Scheinaufklärung als konträrer Effekt zur Aufklärung nach Kant verstanden werden muss. Insofern kann heutzutage jedwede Kritik an Programmen des Fernsehens, Radio, auch denen des Internets, an den Aussagen Adornos über die Kulturindustrie gewichtet werden. Grundsätzlich ist es diskutabel Medien per se zu verdammen und sie als konkreten Bildungsgegenstand zu verstehen. Denn schließlich ist Aufklärung »[…] der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« und »Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« Demnach sind wir uns selbst überlassen, inwieweit wir uns von der Kulturindustrie leiten lassen wollen.
In Theodor W. Adornos »Résume über die Kulturindustrie« findet sich eine Andeutung auf das von Walter Benjamin beschriebene »auratische Prinzip« (Kursbuch Medienkultur, 1999: 21), welches er auf die Kulturindustrie anwendet und wie folgt definiert »Nimmt man Benjamins Bestimmung des traditionellen Kunstwerks durch die Aura, die Gegenwart eines nicht Gegenwärtigen auf, dann ist die Kulturindustrie dadurch definiert, dass sie dem auratischen Prinzip nicht ein Anderes strikt entgegensetzt, sondern die verwesende Aura konserviert, als vernebelnden Dunstkreis. Dadurch überführt sie sich selbst unmittelbar ihres ideologischen Unwesens.« (Kursbuch Medienkultur, 1999: 205)
Dieses Bild aufgreifend habe in mich in meiner Arbeit »Adornos TV« mit den Fragestellungen der Wahrnehmung und Wirkung von Videoinhalten, im speziellen der Werbung, auseinandergesetzt und wie diese auf einem heutigen Fernsehgerät im Sinne Adornos wiedergegeben werden könnte.
Ausgehend von einem 20-sekündigen Werbeclip einer bekannten Firma für Beauty-Produkte in der ein besonders aufregendes und intensives Reinigungs- und Pflegeergebnis anhand eines neuen Produktes propagiert wird, habe ich verschiedene Techniken der Artefakt-Generierung und Entfremdung sog. Glitches, digitale Fehler, angewendet um die innere Struktur des Clips auflösen, Übergänge erzeugen, Rauschen und Artefakte zu verstärken und schließlich die industriell hergestellte Kodierung offenzulegen.
Denn nicht nur die Werbung als Mittel selbst sondern auch die Codierung moderner digitaler Videoinhalte ordnet sich strikt dem Prinzip der Kulturindustrie unter. Verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel von modernen Video-Codecs wie MPEG-2 oder MPEG-4, die als Standard für die Übertragung von Fernsehinhalten im Bereich des digitalen terrestrischen, Satelliten- oder Kabelfernsehens verwendet werden. Video-Codecs dienen der Komprimierung von Bildinhalten und sorgen für eine optimale Übertragung von Information. Zugunsten dieser Bandbreitenoptimierung werden bestimmte Inhalte strukturell zusammengefasst und mittels komplexer Algorithmen komprimiert. Allein am MPEG-2 Codec halten derzeit mehr als ein Dutzend Medienkonzerne über 800 Patente (Wikipedia: MPEG-2). Das Bild welches man demnach sehen, kann niemals eine Abbildung der Realität sein, da auch dies im Besitz und der stetigen Kontrolle von Organen der Kulturindustrie ist. Sie definieren wie und auf welche Weise wir diese Informationen wahrzunehmen haben. Unerwünschte oder gar nicht wahrnehmbare Informationen werden zugunsten der Empfangbarkeit komprimiert und entfernt. Im Umkehrschluss ist es möglich als Künstler und Anwender von Codecs, diese zu manipulieren und ihren innersten Kern offenzulegen im dem man Codierungsprozesse unterbricht, Bildmaterial korrumpiert und Videodaten verändert. Hierbei entstehen Fehlerbilder, sogenannte Glitches oder digitale Rauschartefakte, die offenlegen nach welchen Algorithmen das Bild ursprünglich komprimiert werden sollte.
In Anlehnung an das von Shannon und Weaver definierte Kommunikationssystem von Nachrichtenquelle, Sender, Kanal / Störquelle, Empfänger und Nachrichtenziel (Kursbuch Medienkultur, 1999: 447-448) schalte ich mich als Störquelle in die Signalübertragung ein und verstärke Parameter des Rauschens durch sukzessives Herabsetzen von Bitraten, dem Grad der Komprimierung innerhalb des Videos, sodass konkrete Bildinformationen mehr und mehr diffusen Bildern, auftretenden Macroblöcken und Rauschartefakten weichen. Weiterhin ist es möglich durch das Entfernen sogenannter Keyframes an den Schnitten des Clips eine Übertragung von Bewegungsinformationen der Video- inhalte auf weitere Szenen zu ermöglichen. Dies beruht auf der inneren Struktur eines Videos, welches grundlegend auf sogenannten Intra-Frames und Inter- Frames aufgebaut ist.
Intra-Frames sind die Schlüsselbilder bzw. Keyframes eines Videos in Form von Einzelbildern. Sie enthalten die konkreten Bildinformationen in Form von Pixeln mit expliziten Farb- und Positionswerten und werden innerhalb eines festen zeitlichen Abstands und an Szenenwechseln im Video platziert. (Marshall, 2001) Inter-Frames im Gegenzug enthalten keine konkreten Pixelwerte, sondern errechnen auf Basis der vorherigen Bilder, die Veränderungen eines bewegten Bildes anhand von Bewegungsvektoren, die wiedergeben können, wenn sich beispielsweise ein roter Punkt von oben links nach unten rechts bewegt. (Marshall, 2001) Dank Inter-Frames ist es somit nicht notwendig in jedem Einzelbild anzugeben wo sich der Rote Punkte genau befindet, sondern es genügt, den entsprechenden Bewegungsvektor zu definieren, der wiederum von einem Decoder entsprechend ausgelesen werden kann und für die korrekte Bildwiedergabe sorgt. Dies ist deutlich effizienter als jedes Bild konkret mit Pixelwerten zu beschreiben, da somit wesentlich weniger Speicher für das Video benötigt wird.
Entfernt man nun in einem Videoclip alle Intra-Frames, sorge man dafür dass an diesen Stellen die Informationen der Bewegungsvektoren auf ein völlig anderes Bild angewendet werden und so konkrete Bildinformation und sich vererbende Bewegungen miteinander verschmelzen und erst im Verlauf der Zeit Formen erkennen lassen und das eigentliche Bild entsteht. Weiterhin ist es möglich durch das Vervielfältigen von Inter-Frames, inherente Bewegungsinformationen über mehrere Bilder zu übertragen und so eine fliessende Bewegung der Pixel zu erzwingen, die sonst nur für Sekundenbruchteile gültig ist. In ihrem Ergebnis entstehen so fliessende Farbverläufe und sowie optische Effekte der Verschiebung, Verkrümmung und Verformung und damit einhergehend eine Transformation von Signal und Nachricht.
Durch das Ineinanderschachteln und wiederholen einzelner Videoclips erzeuge man zudem visuelle Feedback-Schleifen im Sinne eines ersten kybernetischen Systems nach Norbert Wiener (Wiener, 1936), da jedes vorangegangene Bild das darauf folgende in sich birgt und inherentes Rauschen, Bewegungsvektoren und hervorgebrachte Artefakte übernommen und direkt proportional verstärkt werden
In seiner Gänze entwickelt sich so aus einem ursprünglich 20 Sekunden dauernden Original eine 3-minütige Demontage moderner Fernsehwerbung in der die andauernde Kakophonie von verkaufsfördernden Botschaften sich in einem visuellem Strudel der Verfremdung wieder findet und sich selbst in immer dichter werdenden Schleifen bis hin zur Unkenntlichkeit dekonstruiert.
Literaturverzeichnis
Adorno, Theodor W. (1963): »Résumé über Kulturindustrie«, in: Pias Claus / Vogel, Joseph / Engell, Lorenz / Fahle, Oliver / Neitzel, Britta (1999): »Kursbuch Medienkultur: Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard«, Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt DVA, S.202-208 (im folgenden angegeben als: Kursbuch Medienkultur, 1999)
Benjamin, Walter (1934/1935): »Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit« in: Kursbuch Medienkultur, 1999, S. 18-33
Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (1944): »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragemente«, in: Adorno, Theodor W. Gesammelte Schriften, Bd.3, Frankfurt a.M. 1981
Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Berlinische Monatsschrift, 1784, H. 12, S. 481-494
Marshall, Dave (2001): »Intra Frame Coding« http://www.cs.cf.ac.uk/Dave/ Multimedia/node248.html, zugegriffen am 03.08.2013
Marshall, Dave (2001): »Inter Frame Coding« http://www.cs.cf.ac.uk/Dave/ Multimedia/node249.html, zugegriffen am 03.08.2013
Rosa, Hartmut / Kottman, Andrea / Strecker, David (2007): »Soziologische Theorien«, Stuttgart, UTB, S. 109-129
Shannon, Claude E. / Weaver, Warren (1949/1964): »Mathematische Grundlagen der Informationstheorie« in: Kursbuch Medienkultur, 1999, S. 446-449
Wiener, Norbert (1948): »Newtonscher und Bergsonscher Zeitbegriff« in: Kursbuch Medienkultur, 1999, S. 432-445
Wiener, Nobert (1936): »Die Rolle des Beobachters (The Role of the Observer)« in: Dotzler, B. ed. Norbert Wiener: Futurum Exaktum - ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie, Wien, Springer
Wikipedia: »MPEG-2«, in: http://de.wikipedia.org/wiki/MPEG-2, zugegriffen am 03.08.2013
Wikipedia: »Inter-Frame«, in http://en.wikipedia.org/wiki/Inter_frame, zugegriffen am 03.08.2013
Künstlerische Arbeit
Adornos TV: Blackhead http://www.youtube.com/watch?v=KD0Bly2qBO4 Martin Melcher, Bauhaus-Universität Weimar, 2013