Paul Haas

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Flanieren

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Letztens war ich auf dem Friedhof. Ich bin ihn ganz, von vorn bis hinten, entlangspaziert. Wenn die Menschen an einem Grab stehen, dann, so erschien es mir, weniger zum Zwecke der Trauer als sich um den Grabesschmuck zu kümmern oder sich über dessen Gestaltung auszutauschen.

Zunächst ist mir dieser Gedanke wichtig: Über den Toten wacht die Natur, gedeiht etwas Neues usw.; jedoch wortwörtlich im Rahmen der Möglichkeiten. Jede Woche kommt und geht der/die Trauernde zur Grabpflege. Es sind die wildesten Pflanzen, die gewagtesten Blumenfarben zu entdecken - immer schön getrimmt. Bis die Natur in diesem Fall die Möglichkeit hat sich frei zu entfalten, braucht es etwas wie das komplette Aussterben einer Familie, eines Namens, einer Generation oder auch einfach das Vergessen und das Egal-Sein. Dann wird niemand mehr zur Grabmalpflege kommen, die Natur kann wuchern. Des Menschens aktives Einwirken hat deren Eingrenzung und eine Form der Erholung begünstigt. Entgrenztheit erfährt die Natur schließlich erst wieder ohne die direkte Einwirkung des Menschen.

Ein ähnlicher Vorgang lässt sich in verlassenen Tagebaugebieten beobachten. Der Mensch geht aus Gründen der Rohstoffknappheit, er muss weiterziehen. Sein aktives Einwirken in die Natur hat deren Erschöpfung bewirkt. Seine Passivität verursacht deren Entgrenzung.


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"Und ist es köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen. (Psalm 90)
   

Oben Bilder, mit meiner Handykamera gemacht, von zwei Grabmalen. Das Eine feiert die Arbeit oder vielmehr das Bild vom hart Arbeitenden, der nach Hause kommt, stundenlang geackert hat, nichts im Magen, und nun isst. Unabhängig vom Geschmack des Essens selbst steht fest, dass es schmecken wird, weil die Arbeit getan ist. Dem gegenüber, nicht lokal gesehen wohlgemerkt, steht ein Mann, sitzend, einen Hammer schlaff in der Hand haltend. Und das ist gar nicht so paradox wie es zunächst scheint. Der Arbeitende wird im ersten Fall zwar belohnt für seine Arbeit - aber nur spärlich. Sein Glück und seine Zufriedenheit zieht er aus einem Gefühl und schon gar nicht aus seinen Lebensumständen. Er ist anspruchslos. Im zweiten Fall hat der Arbeitende aufgegeben. Sein Körper strotzt auf der einen Seite vor Kraft, doch seine Haltung vermittelt Schwäche und Resignation vor der unendlichen Bürde, die er zu tragen hat. Beide Denkmäler sind also weniger paradox, als dass das eine die Vorstufe für das andere, das zweitere die unmittelbare Folge des ersteren ist. Ich gehe weiter, Gropius' "Denkmal der Märzgefallenen" kommt in Sichtweite. Schichten um Schichten von Arbeiterkörpern unter der Erde liegend, deren Wut die der anderen ist und die vereinte Arbeiterschaft...jajaja! Also etwas dazwischen. Zwischen Trauer und Freude über die Arbeit oder deren Lohn allein. Über das Haben-Bekommen-Verhältnis.


_3 Behlitz; Kiesgrube Zschepplin; Goitzsche

   
   



_4 Arbeitsraum

     

     


_5 Projektionsstrukturen

     
   




_6 Skizze Konstruktion

 

Ideen

Der Mensch als Werkzeugträger.

"Der Mensch war einmal Werkzeugträger; die technischen Ensembles konnten sich  nur durch die Eingliederung des Menschen als Werkzeugträger bilden. 

Der deformierende Charakter des Berufs war gleichermaßen psychisch wie somatisch. Der Werkzeugträger wurde durch den Gebrauch der Werkzeuge deformiert." (S. 95)

Arbeit hat (nach Simondon) Auswirkung auf Körper und Geist. Arbeit bedingt einen Arbeitsbegriff, eine Konstruktion eines Konzeptes oder einer Vorstellung, eine Erkenntnis von Welt.

Nun aber ist durch das Ausmaß der Welt, das der Mensch nicht mehr fassen kann "die menschliche Welt des technischen Handelns (...) dem Individuum wieder fremd geworden, indem sie sich entwickelt und formalisiert hat, auch, indem sich dieses Handeln in Form der maschinellen Arbeitsweise verschärft hat, die zu einer neuen Anbindung des Menschen an eine industrielle Welt führt , welche die Dimension und das Denkvermögen des Individuums übersteigt.(S. 94)[..]Der Mensch benötigt daher nicht…Befreiung durch Universalisierung, sondern eine Vermittlung." (S. 95)

"Eine neue Anbindung des Menschen an eine industrielle Welt, welche die Dimension und das Denkvermögen des Individuums übersteigt."

Ein Mann steht im Tagebau vor einem Schaufelradbagger. Man sieht ihm seine Begeisterung und vor allen Dingen seinen Stolz an. Dieser Mann hatte nichts mit dem Bau des Schaufelradbaggers zu tun. Er versteht die Mechanik dahinter kaum - er ist KfZ-Mechatroniker - und schon gar nicht die Elektronik. Trotzdem erstarrt er, aber wovor und wozu? Es ist sicherlich zum einen die Gigantik des Ganzen; zum anderen aber ein Gefühl von Stolz, dass es so etwas gibt auf der Welt, ein Menschheitsgefühl bzw. dafür, wozu "SIE" imstande ist. Dieser Mann könnte in diesem Moment, in dem er vor dem Schaufelradbagger steht und staunt eine Schnittstelle für die Mensch-Maschine-Maschinerie sein.

...

Beziehung Mensch-Maschine-Maschinerie Maschinerie könnte gleich der Beziehung von Mensch und Maschine bedeuten.


___ Drei Ebenen in einer Installation: Unterwasser, ebenerdig, kurz über der Erde schwebend. Ein von den Umweltbedingungen her betrachtet weiter Raum, aber trotzdem ein nahe beieinander liegender Raum. Einen halben Meter über dem Boden, auf Bodenebene, unter der Wasseroberfläche nach oben schauend. (Zentristisch. Durch die Blickrichtungen der jeweiligen Kameras ein Zentrum bildend.)

Ort, der von Maschinen bearbeitet wurden: stillgelegter Tagebau. Ort, der von Maschinen bearbeitet wird: aktiver Tagebau. Nach übergebliebenen Strukturen suchend. Nach neuen Strukturen suchend. Es geht mir um eine gewisse Kraft, die einmal da war/die immer noch da ist. Es ist das, was die Maschine hinterlassen hat, das, was sie nach außen getragen hat. Die Maschine zeigen ohne sie zu sehen?

___ Nein: Nachstellen des menschlichen Blinzelns. Es ginge mir dabei vor allen Dingen um die Unschärfe und deren Verzerrungen u. a. durch Tränenflüssigkeit. Einbauen, aber umsetzbarer (siehe unten "Neue, umsetzbare")): Mit einem Quadrocopter (ohnen einen zu besitzen) über ein Tagebaugebiet fliegen, einen noch laufenden Tagebau aufsuchen, darüber fliegen, einen Essayfilm machen. Werner Herzogs "Lektionen in Finsternis" geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Referenzen

- Einführung in die kritische Theorie, Christoph Türcke/Gerhard Bolte
- Transformationen der Kunst, Eine Archäologie des Ästhetischen, Dieter Mersch
- Baumaschinen, Erdbau- und Tagebaumaschinen, Günter Kunze, Helmut Göhring, Klaus Jacob
- Tausend Maschinen, Eine kleine Philosophie der Maschine als sozialer Bewegung, Gerald Raunig
- Ästhetik und Maschinismus, Texte zu und von Felix Guattari, Henning Schmidgen (Hg.)