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Kindheit
„Als ich klein war, war alles gut“ – wer ertappt sich nicht beim nostalgischen Blick zurück in die eigene Vergangenheit; dahin, wo alles schön und leicht war?
Wie konnte man den 18. Geburtstag mit so viel Euphorie herbeisehnen, der doch das stetige Ende des leichten Seins markiert? Wie konnte man neiderfüllt auf die Erwachsenen blicken und genauso arbeiten, rauchen, Alkohol trinken und Auto fahren wollen wie sie?
Bereits diese kurze Überlegung zeigt, wie die Dinge sich verändern, je nach dem, aus welchem Blickwinkel man auf sie schaut. So formuliert Jean-Jacques Rousseau in seinem bahnbrechenden Erziehungsroman Emile oder Über die Erziehung 1762 bereits: „Man kennt die Kindheit nicht: mit den falschen Vorstellungen, die man von ihr hat, verirrt man sich um so mehr, je weiter man geht […]. Die Kindheit hat eine eigene Art zu sehen, zu denken und zu fühlen, und nichts ist unvernünftiger, als ihr unsere Art unterzuschieben.“
Mit dieser Erkenntnis bepackt, wird die Kindheit immer stärker zur rätselhaften, undurchdringlichen Welt, deren Erschließung dem Erwachsenen verwehrt bleibt und trotzdem immer wieder zur Reflexionsfläche des eigenen kulturellen Selbstbildes wird.
Besonders im Feld der Literatur scheint es beinahe keine AutorInnen zu geben, die sich nicht mit dem Wesen der allgemeinen oder der eigenen Kindheit auseinandergesetzt haben. Diese Beschäftigungen reichen von dem wahrscheinlich einprägsamsten Bild der Romantik, die das Kind als naives, naturnahes Idealwesen zeichnen, bis hin zu Kriminal- und horrorgeschichten, die, eingeleitet durch einen E.T.A. Hoffmann, dem Kind unheimliche, bösartige Züge zuteilen.
Die Folge „Kindheit“ versucht eine Ahnung davon zu geben, auf welche Weise das Zurückschauen in die alten Tage in Worte übersetzt werden kann: Ich bin ein Kind, Ich war ein Kind, Ich träumte als Kind, Ich reflektiere über’s Kind…
„Wir sind nicht von Vergangenheit umgeben, sondern von Vergangenheiten, von einer Welt von über- und durcheinandergewobenen Erinnerungsbildern“, sagt der Autor Friedrich Dürrenmatt in seiner Schrift Labyrinth. Begeben wir uns also auf eine Reise durch Versuche, das Nicht-Fassbare fassbar zu machen und genehmigen auch uns einen Blick auf die eigenen Erinnerungsbilder, die so verzerrt die ganze Zeit gar nicht schienen, nicht wahr?
Literatur von Günter Grass (Auszug aus Die Blechtrommel (1959)), Antoine de Saint-Exupéry (Der kleine Prinz (1942)), Toon Tellegen (Ich sollte nicht denken, aus: Ich wünschte – ins Deutsche übersetzt von Birgit Erdmann (2012)), Rainer Maria Rilke (Kindheit, aus: Das Buch der Bilder (1906)), E.T.A. Hoffmann (Auszug aus Der Sandmann (1816)).
Musik von Inti-Illimani & Marta Gómez (Mariposa), Katzenjammer (Der Kapitan), Sven Fridolfson (Idas sommarvisa), Claude Debussy / Vikingur Ólafsson (Children’s Corner, L. 113:3 Serenade for the Doll), Beatrice Bonifassi (Belleville Rendez-vous), Emmylou Harris & Alison Krauss & Gillian Welch (Didn’t leave nobody but the Baby), Gabriel Fauré / Orchestra of the Age of the Enlightment & Choir of King’s College (Requiem op.48. Agnus Dei), Lena Platonos (Roza Rozalia), Vinicio Capossela (Le Sirene), Andrea Lorenzo Scartazzini / Sinfonieorchester Basel (Der Sandmann Scene 1: Beginn), Lena Platonos / Aris Christofellis (die Nachtigal singt zum Tode), Nicola Piovanni (Buon Giorno Principessa).
Es liest Theresa Stenzel / Die Musik wählen Theresa Stenzel & Konstantinos Margaris aus