1902 wurde Henry van de Velde nicht nur nach Weimar berufen um dort ein kunstgewerbliches Seminar zu errichten. Er wurde auch ausgesandt zu untersuchen, ob die Industrien und Handwerke der Region „durch künstlerische Beeinflussung zu gehobener Tätigkeit entwickelt werden können“. Von zahlreichen Inspektionsreisen – nach Bürgel und Bad Berka, zu den Porzellan- und Terrakottafabriken von Ilmenau, den Holzschnitzern der Rhön und nach Ruhla im Thüringer Wald – lieferte van de Velde dem Großherzog von Sachsen meinungsstarke Berichte und den inspizierten Unternehmen allerlei Anregungen, die nach Darstellung der Handelskammer bei einigen Branchen schon 1907 „bedeutsame Erfolge” nach sich zogen.
Heute steht die Region vor einer noch weitreichenderen Transformationsaufgabe: Angesichts des fortschreitenden Klimawandels muss die Wirtschaft gerade im Thüringer Wald neue Geschäftsmodelle entwickeln, da zwei ihrer wichtigsten Standbeine – die Forstwirtschaft und der Wintersport – durch Trockenheit und Erderwärmung besonders gefährdet sind. Andererseits könnte die Region durch die Stärkung und Verlängerung ihrer Wertschöpfungsketten – die Verarbeitung von Holz zu langlebigen Produkten und neue Formen des Binnentourismus – auch zu einer sozialökologischen Transformation beitragen. Klimaanpassungsprogramme (seit 2013), das vom BMBF geförderte Programm Holz-21-regio (seit 2020) und das Rahmenkonzept für das Biosphärenreservat Thüringer Wald (2021-2030) können als Katalysatoren einer solchen Transformation verstanden werden. Allerdings sind im Thüringer Wald nicht nur Holz und Tourismus in den Blick zu nehmen. Von der breiten Öffentlichkeit unbeachtet haben sich in der Region auch wieder bedeutende Industrieunternehmen angesiedelt.
Der Aufbau regionaler Wirtschaftskreisläufe und hochwertige Produkte können helfen, die ökonomische Abhängigkeit von Regionen zu mindern und ihre Entwicklung voranbringen. Regionale Wirtschaftskreisläufe werden auch seit langem als Mittel gesehen, um Umwelt und Verkehr zu entlasten. Eine sozialökologische Transformation, bei der unsere Gesellschaft so umgebaut wird, dass sie nur noch sehr wenig CO2 ausstößt, Ressourcen schont und sozial gerechter wird, geht aber über diese Ansätze und über die Klimaanpassung hinaus und ist noch längst kein Konsens.
Vor diesem Hintergrund soll das Studienprojekt eine Bestandsaufnahme der regionalen Wirtschaft im Thüringer Wald vornehmen und Informationen über den Grad ihrer Verflechtung und regionale Wertschöpfungsketten zusammentragen. Parallel dazu soll es eine Verständigung über normative und analytische Konzepte der sozialökologischen Transformation leisten und Kriterien ableiten, die zur Bewertung der Regionalentwicklung herangezogen werden können. Schließlich sollen – branchenspezifisch oder in Teilräumen vertieft – Konzeptionen für eine ressourcenkompatible und umweltgerechte Transformation entwickelt werden.
Wo gibt es bereits regionale Wertschöpfungsketten und Wirtschaftskreisläufe? Welche weiteren Potentiale zeichnen sich ab oder wurden bereits identifiziert? Welche Art der Transformation ist aus regionalplanerischer Sicht anzustreben? Wie stark und auf welche Weise kann bzw. soll der Staat in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen um die gewünschte Transformation zu erreichen?
Die Bestandsaufnahme und Analyse beginnt Anfang November mit einer Exkursion in den Thüringer Wald, soll im Laufe des Semesters aber eigenverantwortlich durch weitere „Inspektionen“ in der Tradition von Henry van de Velde fortgeführt werden. |