Das neue Kabinett

Die neue Regierungskoalition und ihr Programm

Gerhard Schröder
Kanzler

Erfahrungen mit einer rot-grünen Regierung hat der 54jährige Gerhard Schröder als Ministerpräsident von 1990 bis 1994 in Niedersachsen sammeln können. Mit teilweise gleichem Personal, zum Beispiel Jürgen Trittin, wird Schröder nun in Bonn regieren. Er ist der erste Bundeskanzler, der seinen Vorgänger durch eine Wahl hat ablösen können, und der dritte Bundeskanzler, den die SPD stellt. In Schröders Regierungszeit wird der Wechsel nach Berlin fallen - viele Zeitgenossen sehen darin das Ende der "Bonner Republik". Der Jurist sagt von sich selbst, daß er früher die Revolution geplant habe und jetzt alles daransetze, diese zu verhindern. Die Wahl zum Bundeskanzler wird am 27. Oktober sein.

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Oskar Lafontaine
Finanzen

Er wird neben dem Kanzler der starke Mann im Kabinett sein. Denn der 55jährige SPD-Chef ist nicht nur Schröders Parteichef. Mit dem um die Europakompetenzen erweiterten Finanzministerium hält er das Schlüsselressort in Händen. Der Physiker wurde 1985 Ministerpräsident im Saarland und verteidigte seitdem die absolute Mehrheit. Als SPD-Spitzenkandidat unterlag er bei der Bundestagswahl 1990 Helmut Kohl. Eine Attentäterin verletzte ihn in diesem Wahlkampf lebensgefährlich. 1995 löste er Rudolf Scharping als SPD-Vorsitzenden ab. Lafontaine zeichnet eine internationale Sichtweise und die Überzeugung aus, Politik müsse in die Wirtschaft eingreifen.

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Joschka Fischer
Außen

Dem Mann, der keinen seiner bisherigen Berufe dauerhaft ausgeübt hat und dem deshalb der Ruf anhaftet, er bringe nichts zu Ende, kann man eines nicht vorwerfen: daß er zu wenig Lebenserfahrung besitze. Der gebürtige Schwabe, Kind ungarischer Zuwanderer, war Fotograf, Übersetzer,
Pflastermaler, Taxifahrer und der erste grüne Minister in Deutschland. Wer ihn noch als hessischen Umweltminister in Turnschuhen vor Augen hat, muß sein Bild von Fischer aufpolieren. Er ist gereift, äußerlich und politisch. Die Leidenschaft des 50jährigen gilt - nachdem er dem genußvollen Essen entsagt hat - der Außenpolitik. Seine Auffassungen sind nicht immer Mehrheitsmeinung der Grünen.

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Jürgen Trittin
Umwelt

In Wortschatz und Redekunst war Jürgen Trittin immer ein "Linker", kokettierte mit radikalen Studentenorganisationen in Göttingen oder brachte die eigenen Mannen zu Beifallsstürmen, wenn er auf die "soziale Kälte der Konservativen" schimpfte. In seiner Arbeit jedoch war der 44jährige Diplom-Sozialwirt immer ein Machtpolitiker und dem "Realo-Flügel" zuzuordnen. Trittin sorgt mit verbaler Schärfe dafür, daß die Linken sich in ihm repräsentiert fühlen. Weil er zuweilen distanziert auftritt, hat der frühere niedersächsische Bundesratsminister (1990 bis 1994) manchmal Mühe, seinen Platz bei den Grünen zu halten. Im Sommer fast gestürzt, ist er nun als Bundesumweltminister ganz oben.

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Otto Schily
Innen
Der Bundesinnenminister hat einen weiten politischen Weg hinter sich und ist Reizfigur für die Konservativen. Schily wandelte sich vom bürgerlichen Liberalen zum linken Systemkritiker, der zuletzt Verfechter eines starken Rechtsstaates wurde. Zweifellos ist der 66jährige ein brillanter Denker. Bekannt wurde der Rechtsanwalt durch seine Mandanten, darunter RAF-Terroristen. 1983 zog Schily für die Grünen in den Bundestag und kam 1989 zur SPD. Obwohl unter Rudolf Scharping in die Fraktionsführung aufgerückt, fand er nicht nur Freunde im eigenen Lager. Der SPD-Landesverband Bayern stellte Schily bei der Bundestagswahl nur auf einem hinteren Listenplatz auf.

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Rudolf Scharping
Verteidigung

Vergeblich hat sich Rudolf Scharping gesperrt, als "Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt" auf die Hardthöhe zu wechseln. Es ist aber keine Hypothek für den Verteidigungsminister, daß er sich an den begehrten Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion klammerte. Der 50jährige hat sich die Interessen der Bundeswehr zu eigen gemacht, die Strukturveränderung ablehnt und kein Steinbruch für finanzielle Forderungen anderer Ressorts sein will. Mit Garantien hat der Westerwälder einen guten Einstand bei der Truppe. Als Oppositionsführer hatte er noch eine Halbierung der Streitkräfte verlangt. 1994 war der begeisterte Radfahrer Kanzlerkandidat der SPD, von 1993 bis 1995 deren Chef.

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Herta Däubler-Gmelin
Justiz

Sie ist zwar die erste sozialdemokratische Frau an der Spitze des Ressorts, doch eine Quotenfrau wollte Herta Däubler-Gmelin nie sein. 1972 wurde die promovierte Juristin erstmals in den Bundestag gewählt, seitdem kämpft sie dort für die Gleichstellung der Frauen. Ähnlich reformfreudig wird sie wohl nun als Justizministerin Zeichen setzen. In der SPD errang die Schwäbin 1988 als erste Frau den Posten der stellvertretenden Parteivorsitzenden.1997 verlor sie dieses Amt - an eine andere Frau: Bayerns SPD-Chefin Renate Schmidt. Im Parlament machte sich die 55jährige als rechtspolitische Sprecherin, Vorsitzende des Rechtsausschusses und Vize-Fraktionschefin einen Namen.

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Werner Müller
Wirtschaft

Gerüchte um seinen Wechsel in die Politik begleiten Werner Müller, seit der 52jährige seinen Vorstandsposten bei der Gelsenkirchener Veba Kraftwerke Ruhr (VRK) hingeworfen hat. Zwar wurde auch über Unstimmigkeiten mit dem Mutterkonzern PreussenElektra spekuliert, doch da sei nicht viel dran, heißt es beim Energiekonzern. Kontakte gebe es weiter, freundschaftliche sogar. Die wird der Wirtschaftsminister auch benötigen, wenn er mit früheren Kollegen über den Ausstieg aus der Atomenergie verhandeln muß. Bereits bei den seinerzeit gescheiterten Energie-Konsensgesprächen hat der promovierte Musikwissenschaftler Gerhard Schröder die Partitur geschrieben.

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Walter Riester
Arbeit

Einen strategischen Schlüsselbereich nennt Arbeits- und Sozialminister Walter Riester sein Aufgabenfeld. Der stellvertretende IG-Metall-Vorsitzende gilt als Modernisierer und Taktiker. In der IGM gestaltete der gelernte Fliesenleger aus dem Allgäu den Weg in die 35-Stunden-Woche für die Metallbranche wesentlich mit. Innergewerkschaftlich eckte Riester mit seinem Erneuerungskurs an - etwa mit
Vorschlägen zur Reform des Flächentarifvertrages. Bei Unternehmern aber gilt er als fairer Verhandlungspartner. Der 55jährige Quereinsteiger hat die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zu seinem politischen Hauptziel erklärt. Dabei setzt er vor allem auf ein Bündnis für Arbeit.

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Edelgard Bulmahn
Bildung

Typisch ist der Werdegang von Edelgard Bulmahn in der SPD, die 47jährige paßt in das Klischee einer "Parteilinken": Die Studienrätin engagiert sich in der Programmdiskussion der Sozialdemokraten. Im "roten" Stadtteil Hannover-Linden geboren, kam Bulmahn vor elf Jahren in den Bundestag. 1994 wurde sie Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses, 1996 Fraktionssprecherin für die Hochschulpolitik. Schröder hält große Stücke auf Bulmahn und hätte sie wohl früher gern ins Landeskabinett geholt. Sie aber sah ihre Zukunft in Bonn. Wie das Schicksal so spielt - nun wird sie hier wie dort gebraucht, denn Bulmahn steht seit kurzem an der Spitze des SPD-Landesverbandes in Niedersachsen.

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Karl-Heinz Funke
Agrar

Karl-Heinz Funke ist ein Prototyp: Erstmals in der deutschen Geschichte wird ein Sozialdemokrat Bundeslandwirtschaftsminister. Die Kanzler Brandt und Schmidt hatten diesen Job dem Koalitionspartner FDP überlassen - in der Erkenntnis, selbst niemanden zu haben, der bei Landwirten populär genug ist. Diese Zeiten sind vorbei. In Niedersachsen wird der 52jährige von den Bauern geradezu verehrt. Der redegewandte Politiker füllt die Säle und hat sich als guter Anwalt für seine Klientel erwiesen. Der Berufsschullehrer und Landwirt ist seit 20 Jahren Landtagsabgeordneter, seit acht Jahren Landesminister und zeitlebens ein "sturer Oldenburger"- konservativ, geradlinig und direkt.

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Andrea Fischer
Gesundheit
Als Einsatz für gesellschaftlich Benachteiligte versteht Gesundheitsministerin Andrea Fischer ihre Arbeit. Die politische Senkrechtstarterin, die seit 1985 den Grünen und seit 1994 dem Bundestag angehört, ist sozialpolitische Sprecherin ihrer Fraktion und profilierte sich als Rechtsexpertin. Unter anderem legte die 38jährige Wahlberlinerin ein vielbeachtetes Konzept zur gesetzlichen Altersversicherung vor, das Eingang in das Grundsatzprogramm ihrer Partei fand, aber auch die Union beeindruckte. Bei den Grünen zählt die Druckerin und Diplom-Volkswirtin, die im Parlament mit rauchiger Stimme und beherzten Reden auffällt, weder zum realpolitischen noch zum linken Flügel.

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Christine Bergmann
Familie

Ein Karikaturist hat kürzlich über Christine Bergmann geklagt, diese Frau sei eine "Katastrophe". Sie habe "keine Ecken und Kanten" und könne deshalb nicht überzeichnet werden. Dieses Urteil gilt nicht nur optisch, auch sonst wirkt die Familien-, Frauen- und Jugendministerin eher spröde. Sie tritt schnörkellos und sachbezogen auf, eben pragmatisch. Schon vor vier Jahren hatte Rudolf Scharping die heute 59jährige in seine Schattenmannschaft aufgenommen. Bisher ist die gebürtige Dresdenerin in der Berliner Politik aktiv. Die zweifache Mutter ist derzeit stellvertretende Bürgermeisterin und führt das Arbeits- und Frauenressort der Hauptstadt.

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Franz Müntefering
Verkehr und Bau
Diesen Politiker darf man nicht unterschätzen, obwohl er "nur" das Bau- und Verkehrsministerium leitet. Franz Müntefering ist der Politiker im Kabinett, der neben Oskar Lafontaine die wohl größte Machtposition in der SPD hat. Der 58jährige ist Chef des mitgliederstärksten SPD-Landesverbandes und leitet parallel die Bundesgeschäftsstelle. Als "autoritätsbezogen und autoritär" hat ihn ein Genosse bezeichnet. Lange war über Münteferings Verwendung gemutmaßt worden. Problematisch wären die Rollen Kanzleramts- oder Fraktionschef geworden, denn in Kombination mit seiner Position in der SPD wäre die Machtfülle des altgedienten Sozialdemokraten zu groß geworden.

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Heidi Wieczorek-Zeul
Entwicklung
Der Spitzname "rote Heidi" haftet ihr stets an, auch wenn die einstige Juso-Vorsitzende politisch erwachsen geworden ist. Nur die roten Haare von Heidemarie Wieczorek-Zeul erinnern noch an den Titel. Die Europaexpertin der SPD kam 1979 ins Europäische Parlament, in dem sie acht Jahre
internationale Erfahrung sammelte. Danach wechselte die gebürtige Frankfurterin in den Bundestag. Die SPD wählte sie 1993 zur Vize-Vorsitzenden. Die 55jährige gehörte zwar schon 1994 dem Schattenkabinett von Rudolf Scharping an, ihre jetzige Berufung ist dennoch eine Überraschung: Eigentlich sollte das Ministerium für Entwicklungshilfe dem Auswärtigen Amt zugeordnet werden.

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Quelle: HAZ vom 20.10.98