1.1. Medienbegriffe
a) und b)
Bertolt Brecht (1932) |
Hans Magnus Enzensberger (1970) |
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Distribution |
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Brecht versteht den Rundfunk als einen reinen Distributionsapparat, der ausschließlich in eine Richtung sendet und verbreitet und somit lediglich zuteilt. |
Enzensberger sieht eine rasante Entwicklung bei der Ausbreitung neuer Medien voraus. Er führt den Begriff der "Bewusstseinsindustrie" ein. Diese sei der Schrittmacher der sozioökonomischen Entwicklung in einer spätindustriellen Entwicklung. Er fügt ein, dass die Monopole Steuerungs- und Kontrollfunktionen übernehmen. Er wendet sich gegen die Propagandafunktion der neuen Medien. |
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Kommunikation |
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B. setzt diesen Umständen seinen Wunsch der Umwandlung in einen "Kommunikationsapparat" auf visionäre Art und Weise entgegen. Die damaligen Radios trugen nicht zu Unrecht den Namen "Volksempfänger". B. wünschte sich allerdings den Rundfunk als Medium des "wechselseitigen Austauschs". Der Rundfunk würde erst positiv, wenn er "interagiere". Er wünschte sich einen Austausch im Sinne gegenseitigen "Belehrens". |
E. fordert die "Entfesselung" der emanzipatorischen Möglichkeiten zur Entwicklung der neuen Produktivkräfte. Er möchte Menschen mobilisieren. |
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Produktivkraft |
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Nach Auffassung Brechts ist die Nutzung des neuen Mediums als Produktivkraft entwickelbar. Dies sei möglich durch die Formung einer neuen Ordnung. |
Nach Enzensbergers Auffassung wäre eine Entfesselung von Produktivkraft durch die Übernahme von Sendern entwickelbar. |
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Gesellschaftlicher Hintergrund |
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Laut B. ist die Gesellschaft gekennzeichnet durch ein "mechanisches und beziehungsloses Durcheinander" des öffentlichen Lebens. Daneben gebe es aber weitgehend geordnete Komplexe. Der Rundfunk warte geradezu auf die Öffentlichkeit, nicht umgekehrt. |
E. wünscht sich die Entfaltung der Produktivkräfte in einer freien sozialistischen Gesellschaft. Er hält das von Orwell dargestellte Gesellschaftsmodell für unrealistisch. Außerdem hält er die zentrale Kontrollierbarkeit der Netze für höchst unwahrscheinlich. Die "Störfaktoren", welche in dieser Entwicklung auftauchen führten zum Versagen des staatlichen Krisenmanagements, hervorgerufen durch den Einsatz von polizeilicher und militärischer Interventionen. |
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Funktion |
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Nach B. sei das neue Medium nicht auf "Verschönerung" ausgelegt. Der Staatsrundfunk nehme das Bild eines "trauten Heims" in den Fokus. |
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Theorie |
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Brecht wünscht sich im Rundfunk die Weiterentwicklung von bestehender Kultur im Sinne von gegenseitigem Belehren. Er möchte sich vom Drama wegbewegen zum epischen Theater. Oder anders ausgedrückt: vom Emotionalen zum Rationalen. Er entwickelt erste theoriebezogene Ansätze neuer medialer Vermittlung. |
Baudrillard sieht Enzensbergers Analyse vor dem Hintergrund ideologiegeleiteter Theoriebezüge. Dies wäre Befangenheit in der Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. |
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c)
Baudrillards Debattenbeitrag Baudrillards Aufsatz erschien im Vergleich mit Enzensbergers Beitrag in dem relativ geringen Abstand von nur zwei Jahren. Er bringt jedoch ein völlig anderes Verständnis von Medien und medialen Wirkungen in die Debatte ein. Baudrillard ist wesentlich mehr als Enzensberger von den soziologischen und philosophischen Auseinandersetzungen geprägt. Zu seinem Erfahrungshintergrund gehörte der "nonkonformistische" und fundamentale Studentenprotest des Jahres 1968. Zu dieser Zeit arbeitete Baudrillard als Assistent an der Universität Paris-Nanterre, das Zentrum des studentischen Protests. Baudrillard ist wissenschaftstheoretisch den postmodernen Denkern der französischen Schule des Neostrukturalismus zuzuordnen. Aktuelles neostrukturalistisches Denken geht nicht von solchen Bildern wie Kreisläufern und Spiralbewegungen aus, sondern von nichtlinearen Symbolen (vgl. "Rhizome" und "Plateaus" bei Charles Deleuze / Felix Guattari). Die Funktionen von Kommunikation und der Kommunikationsbegriff selbst werden in unterschiedlichen Bezugssystemen jeweils unterschiedlich beschrieben und betrachtet. Baudrillard geht von einer "strukturellen und differentiellen Logik der Zeichen" aus (Jean Baudrillard: Paradoxe Kommunikation. Bern: Benteli 1989 S.6). In der Auseinandersetzung mit Enzensberger wendet er sich vor allem gegen die idealisierende und harmonisierende Form von Enzensbergers Analyse.
Distribution Baudrillard spricht von einer zunehmenden Vergesellschaftung der Medien. Seine radikale Sicht auf die Dinge äußert sich in seiner Aussage, dass Medien nur Realitätsstatus als "Form" annehmen. Nach seiner Meinung zwingen Medien eine jähe und übermäßige Betonung von Ereignissen, Informationen und Bewertungen auf.
Kommunikation Medien produzieren personenbezogene Nicht-Kommunikation. "Es darf kein Sprechen mehr geben außer dem, das aus dem Sprechenlassen hervorgeht, aus einem Akt der Kommunikation also. Es darf keine Aktion mehr geben außer der, die aus einer konzentrierten Interaktion hervorgeht, bei der Kontrolle und Feedback stets impliziert sind." (Paradoxe Kommunikation, S. 8)
Produktionskraft Baudrillard kritisiert, dass die Begriffe "Sprache", "Zeichen" und "Kommunikation" von Enzensberger in das marxistische Schema der Produktionsmittel und Produktionskräfte gebracht wurde.
Funktion "Subversion" würde zu Zeichen neutralisiert und bringe eine "tödliche Öffentlichkeit" hervor. Die Medienmechanik würde zu einer Einebnung von Bewegung führen, da ihr die Triebkraft genommen werde.
Gesellschaftlicher Hintergrund Baudrillard bestätigt die gesellschaftliche Kontrollfunktion der Medien. Diese wären allerdings unausweichlich mit dem Machtsystem verbunden.
Theorie Baudrillard sagt, dass die Medien modellierte Inhalte liefern. Enzensberger finde im Hinblick auf seinen freiheitlich sozialistischen Entwurf kein wirkliches Mittel, "einen blockierten Zustand aufzutauen". (S.10)
Schlussfolgerung: Bertolt Brecht analysiert die Potentiale des damals neuen Mediums Rundfunk auf eine fast schon visionäre Art und Weise. Er versucht die Vielzahl von Nutzungsmöglichkeiten des neuen Mediums, vor allem seine kommunikativen Funktionen herauszustellen, indem er die "gegenseitige Belehrung" als Chance des gegenseitigen Austauschs betont und fordert. Das heißt er argumentiert im Sinne einer konstruktiven und humanen Nutzung und Weiterentwicklung des Mediums. Er bezeichnet den Rundfunk als reinen Distributionsapparat, der nur eine Seite aufweise, wo eigentlich zwei vorhanden sein müssten. Für ihn war absehbar, dass das Radio später für die Ziele des Staates benutzt werden würde. Damals sprach Brecht noch vom "Durcheinander" einiger gesellschaftlicher Teilbereiche. Enzensberger dagegen beklagt die Immobilisierung des Einzelnen und der zunehmende Entpolitisierungsprozess. Technisch müsse es möglich sein, dass jeder Empfänger auch ein potentieller Sender sei. Er war der Überzeugung, dass der um sich greifenden Bewusstseinsindustrie entgegengewirkt werden müsste. Er vertrat eine eher optimistische Haltung, auch weil er Orwells Bild einer "monolithischen Bewusstseinsindustrie" für überholt hielt. Eine völlig andere Sichtweise der Funktion von Medien vertritt dagegen Jean Baudrillard. Er negiert die Möglichkeit einer umfassenden Medientheorie. Er sieht Enzensberger als in alten Denkweisen verhaftet, indem dieser "Sprache", "Zeichen" und "Kommunikation" ideologisch vereinnahmt. Ich schließe mich ihm an und sehe darüber hinaus die Notwendigkeit, dass ungefilterte Information, Zulassung von Ambivalenzen, die Zulassung von Differenzierung und die Entwicklung und Duldung revolutionärer Medien unsere Gesellschaft bereichern würde. Zudem könnten solche Entwicklungen auch dazu beitragen gesellschaftliche Verkrustungen zu lösen.
Zum Begriff Rundfunk Der Begriff des Rundfunks, von dem Brecht spricht, hat mittlerweile eine Bedeutungserweiterung erfahren. Er bezieht sich jetzt auch auf die Verbreitungsfunktion des Fernsehens. Rundfunkstaatsvertrag und Mediendienste-Staatsvertrag sind funktionsbezogen und institutions- und werkzeugbezogen getrennt.
Zur Unterscheidung von Distributivmedien (A) und Kommunikationsmedien (B) A: Radio, Printmedien, Bücher, einige elektronische Medien (TV, Kino), Internetseiten ohne Foren, Chats und Gästebücher. |
Lerngruppe: Bernd Naumann, Mareike Koch, Jakob Gomoll