Vor dem Schirm
Buchprojekt zur Vorgeschichte des Bildschirms, 2002
Quer durch die Geschichte und die Kulturen findet man Belege für die Sehnsucht des Menschen nach dem Bildschirm. Erst im 20. Jht. konnte sie mit der technischen Erfindung des Fernsehgeräts gestillt werden. Vorläufer des Bildschirm-Motivs sind auf kunstgewerblichen Gegenständen, an Skulpturen und in Architekturdetails, auf Gemälden und Grafiken zu finden. In 15 thematisch gegliederten Abschnitten mit 180 Abbildungen wird der historisch gewachsenen Beziehung von Bild und Schirm nachgegangen. Künstlerische und wissenschaftliche Vorgehensweisen berühren sich im Spannungsfeld von Wort und Bild, von Vergangenheit und Gegenwart. Die Publikation wurde durch die Ernst-Abbe-Stiftung zur Förderung innovativer wissenschaftlicher Forschung, Jena finanziert und bei Modo in Freiburg verlegt.
Einleitung
Vor dem Schirm verbringt der Mensch immer mehr Zeit. Bildschirme prägen die Alltagsumgebung und den Tagesablauf. Leuchtende Bilder verbinden sich mit Grafik, Text und Tönen und beanspruchen Aufmerksamkeit. Sie informieren und unterhalten, sie erzählen und provozieren Gefühle. Der Gebrauch der allgegenwärtigen Bildschirme nimmt nicht selten kultische Formen an, die in die Frühzeit der Bilder weisen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Fernsehen, das nach einem guten halben Jahrhundert seiner Existenz vor seiner Transformation in andere technische Formate der Bilderzeugung und Verbreitung steht. Die zunehmende Verschirmung der Umwelt wird ferner bestimmt durch die fortschreitende Computerisierung der menschlichen Handlungs- und Kommunikationsstrukturen. Immer häufiger findet die Interaktion mit anderen Menschen und mit Geräten über Bild- bzw. Datenschirme statt.
Betrachtet man die Beziehung zwischen Bild und Schirm näher, so stellt man fest, dass beide offenbar für einander geschaffen sind. Belege finden sich in der langen Geschichte des Bildermachens seit den Anfängen der religiösen Kunst. Schon in der Zeit vor dem Bildschirm gab es beispielsweise fliegende Bilder, leuchtende Bilder, Rahmen- und Fenstermotive, Verkündigungsszenen, Visionen, Spiegelungen sowie bildgebende Kästen, Möbel und Wände. In Verbindung mit den naturwissenschaftlichen Entdeckungen und den technischen Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden schließlich Sichtgeräte mit einem Bildschirm, der fortan den Bildern als Heimstatt diente. Die rasante Verbreitung der Geräte führte dazu, dass die Wahrnehmungsform des Schirmsehens im 20. Jahrhundert kulturprägend wurde. Diese Entwicklung soll mit exemplarischen Beispielen veranschaulicht werden.
Buchbesprechung
Prof. Dr. phil. habil. Gerhard Schweppenhäuser
Herbert Wentschers Buch »Vor dem Schirm« spürt einem Phänomen nach, das heute allgegenwärtig ist und eine lange Geschichte hat, nämlich dem auf einem Display erscheinenden Bild. Als Fernsehbild prägt es unsere heutige Alltagskultur. Wentscher verfolgt diesen Bildtypus durch die Geschichte der langen abendländischen Kultur. Als Bild-Historiker hält er es so, wie Schlegel den Historiker beschrieben hatte: Er agiert als rückwärtsgewandter Prophet. Frühere Formen, in denen Bilder so aufbereitet wurden, dass sie vor den Augen des Betrachters gleichsam zu entstehen scheinen, werden vom Fernsehbild her erschlossen.
In einem methodisch äußerst raffinierten Cross-Over zwischen seriöser akademischer Kunst- und Kulturgeschichte und narrativ-fiktionalen Assoziationen analysiert Wentscher die ikonologischen Elemente, die unter seinem Blick gleichsam als Vorläufer des televisionären Bildschirms die Augen aufschlagen. Der Autor berichtet Interessantes, ohne zu belehren, und spricht mit feiner Ironie, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Glas, Rahmen, Fenster, Kästen und Altäre aus allen Epochen treten zu einem Ensemble der TV-Hardware zusammen. Fliegende Bilder, das Medium Licht, Perspektive und Spiegel sowie Visionen und Verknüpfungen - das sind die ikonographischen Themen, die auf ihren theologischen und kulturtechnologischen Gehalt hin durchsichtig gemacht werden (und auch auf ihre konstitutive Funktion für das abendländische Konzept des Selbst). Jener Gehalt wird in der Alltagstechnologie Fernsehen zugleich eingelöst und aufgehoben. Nebenbei erzählt Wentscher eine neue Geschichte des Blicks und macht plausibel, dass die Strukturierung des Erlebens durch die Zeitmessung eigentlich schon immer die Instanz des Fernsehbildschirms antizipiert habe.
»Vor dem Schirm« heißt bei Wentscher Verschiedenes: Zunächst sind die Epochen vor dem Fernsehen gemeint, dann wir Heutigen, die vor dem TV-Gerät sitzen, aber eben auch schon all jene, welche in den Zeiten vor dem Schirm vor Schirmen saßen, die noch kein elektronisches Innenleben hatten. Der Clou der Darstellung: Wentscher präsentiert seine Thesen als Beobachtungen, und zwar so, dass sie die Leser selbst machen können. Das gelingt aufgrund der souverän hergestellten Bild-Text-Beziehung. Die geschriebene Erzählung ist auf 182 Abbildungen bezogen, von denen der Gedanke jeweils seinen Absprung nimmt. Dadurch entsteht ein hoher Grad von Evidenz. Zugleich entfaltet das Spielerisch-Essayistische der Methode seine volle Kraft. Wir sehen, wie kurz der Weg ist von der Erscheinung eines künstlichen Menschen im Glaskolben auf dem Bild aus der Renaissance bis zur Erscheinung der »Talking Heads« in den Bildröhren von heute. Wir sehen es selbst, dank der profund kenntnisreichen Zusammenstellung des Materials, und wir erleben eine Überraschung nach der anderen. Dazu werden Erläuterungen des Autors angeboten, die sich nicht tautologisch zum Bild verhalten, weil sie Aufzeichnung eines Forschungsprozesses sind. Wentscher arbeitet als Autor ähnlich, wie er es als Video-Künstler tut. Er sieht Zusammenhänge, recherchiert, arrangiert und findet Formen, die den reflexiven Gehalt der Arbeit sichtbar werden lassen. Das Resultat verrät, auch in dieser Studie über den Bildschirm, eminentes Wissen und exzellente Könnerschaft. Das Buch ist methodisch innovativ und gleichzeitig ein Lesevergnügen. Laien werden daran ebenso ihre Freude haben wie Experten (Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaftler).