Das Yoga der Kunst – Spiritualität und künstlerische Praxis
in: Jahrbuch der Fakultät Gestaltung, 2015
Die Suche nach Sinn und geistiger Erfüllung ist unübersehbar in den Mainstream-Medien angekommen. Titel-Stories des SPIEGEL, des FOCUS und der ZEIT beschäftigten sich wiederholt mit den unterschiedlichen Facetten dieses Themenfelds. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer dramatischen Steigerung psychischer Erkrankungen und dem damit verbundenen volkswirtschaftlichen Schaden wird in der Gesellschaft ein exponentiell wachsendes Bedürfnis nach geistiger Orientierung und spiritueller Erfahrung konstatiert. Zahlreiche Angebote zur Pflege des Seelenheils werben um Aufmerksamkeit und mahnen zur Besinnung in einer sich rasch verändernden, auf Effizienz getrimmten Welt. Sie werden sogar von der Krankenkasse unterstützt und sind integraler Bestandteil eines zeitgenössischen Lifestyle geworden: Yoga, Meditation, Selbsterfahrung...
Wie macht sich dieser Trend im aktuellen Kunstschaffen bemerkbar? Angeregt von eigenen Erfahrungen ging ich in einem Forschungssemester dieser Frage intensiver nach und begann, metaphysische Aspekte in der bildenden Kunst zu untersuchen. Das zutage tretende Potenzial lote ich seither in meiner eigenen künstlerischen Arbeit aus und stelle meine Überlegungen in Vorträgen zur Diskussion.
Im Sommersemester 2013 bot ich für den Promotions-Studiengang (Ph.D.) Kunst und Design/Freie Kunst/Medienkunst einen Workshop »Spiritualität und künstlerische Praxis« an. Einleitend ging ich davon aus, dass Künstlern und Künstlerinnen seit jeher eine Vermittlungsfunktion zu geistigen Welten zugeschrieben wird: sie machen Unsichtbares sichtbar, geben Geistigem eine Form, und mittels Intuition, Imagination und Reflexion schaffen sie Werke, die Angebote zur Weltdeutung, Sinnfindung und Selbstbefragung enthalten.
Meine Betrachtungen konzentrierten sich auf einige aus spirituellen Traditionen bekannte Motive, z.B. Licht, Feuer, Leere, Klang, Tanz, Liebe, Natur, Geschlechtlichkeit. Bildbeispiele aus alter und neuer Kunst sowie der Alltagskultur sollten ihre vielfältigen Erscheinungs- und Wirkungsweisen veranschaulichen, begleitet von Hinweisen auf einschlägige Literatur und Ausstellungskataloge. Anhand exemplarischer Kunstwerke und Künstlerstatements wurden spirituelle Methoden, Ästhetiken und Inhalte erkennbar, die für international bekannte Künstlerinnen und Künstler wie Bill Viola, Marina Abramovic, James Turell und Wolfgang Laib eine wichtige Rolle spielen. Auch jüngere Künstlerinnen wie Juliane Zelwies, Patrycja German oder Julia Kissina reflektieren z.B. Techniken zur Erlangung transzendenter Erfahrung und übertragen sie in ihre Arbeit. So ist ein nie ganz versiegtes und offenbar wachsendes Interesse der Kunst an ihren Ursprüngen im religiösen Kult festzustellen, das auch Schamanismus, Sehertum, Heilung, Mystik, Alchimie und Magie einbezieht.
Begleitet von der unvermeidlichen Problematik eindeutiger Begriffsfestlegungen und objektiv überprüfbarer Wahrnehmungen, zeichneten sich im diskursiven »terrain vague« an den Grenzen des rational Fassbaren anregende Fragestellungen ab, beispielsweise: Unter welchen Bedingungen sind künstlerische und spirituelle Praxis kompatibel, welche Berührungen, Ähnlichkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten gibt es? Inwiefern kann dieser Zusammenhang Gegenstand künstlerischer Forschung sein? Welche Folgen für die Produktion und Rezeption von Kunst hat die in der Kontemplation und Meditation stattfindende Verlagerung des Beobachterstandpunkts in die Nicht-Dualität? Hat die Veränderung der Betrachtungsperspektive Einfluss auf eine mögliche Konvergenz künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeitsweisen?
Die Teilnehmenden waren eingeladen, in ihrer jeweiligen Ph.D.-Arbeit Anknüpfungspunkte zur Workshop-Thematik zu finden und in frei wählbarer Form vorzustellen. Der künstlerischen und gestalterischen Ausrichtung des Ph.D.-Programms entsprechend weisen die Ph.D.-Themen und Methodiken ein hohes Maß an Individualität auf. Erwartungsgemäß zeigte sich diese Diversität auch in den Workshop-Beiträgen.
Ingo Wick stellte das Thema »Transhumanismus als Religion« vor. Die von ihm beobachtete »Spiritualisierung technischer Errungenschaften durch populärkulturelle Medien« belegte er mit Bildbeispielen und Szenarien aus Kinofilmen, Comics, Literatur und Computerspielen. Er erläuterte, wie in der Kreation eines zeitgenössischen Erlebnisnarrativs zum technischen Fortschritt stets auf ästhetische und narrative Muster zurückgegriffen wird, die religiös und spirituell geprägt sind. Häufig bilden sie das menschliche Streben nach Perfektion und Macht ab und drücken damit den Wunsch nach Gott-Ähnlichkeit aus.
Jonas Rehn bezog Aspekte der Innenarchitektur und des Produktdesign ein. Mit dem Begriff »Salutogenese« richtete er den Blick auf die in der Präventivmedizin stattfindende Erforschung von Faktoren, die der Erhaltung der Gesundheit dienen. Demnach kann die Meditations-Praxis bzw. der gestalterische Bezug zur Spiritualität ein »Kohärenzgefühl« verstärken, womit das Gefühl der Sinnhaftigkeit und Bewältigbarkeit des eigenen Lebens gerade in Krisensituationen gemeint ist. Daraus leitete Herr Rehn die Frage nach den Bedingungen ab, die eine »salutogenetische Gestaltung« erfüllen muss, um präventivmedizinische ebenso wie akute therapeutische Maßnahmen durch ein adäquates räumliches Ambiente zu unterstützen.
In Filmausschnitten stellte Subir Che Selia zwei in Malaysia und Thailand bekannte, ca. 800 Jahre alte Theater-Traditionen vor: »Mak Yong« und »Main Puteri«, die seit 2005 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Er wies auf die schamanistischen, hinduistischen und buddhistischen Wurzeln dieser Traditionen hin, deren Besonderheit darin besteht, im Rahmen des Theaterspiels die körperliche und seelische Heilung von Personen aus dem Publikum zu bewirken. Der eindrucksvolle transformatorische Effekt der in Trance agierenden Spieler und ihrer mitspielenden »Patienten« führt ihn u.a. zu der Frage, inwieweit spirituelle Praktiken einen Platz im zeitgenössischen Theater bzw. in der Performance-Kunst haben.
Die Medienkünstlerin Johanna Steindorf präsentierte eine Lecture-Performance mit dem Titel »Of One’s Own«. Ausgangspunkt war Virginia Woolfs Essay über den eigenen Raum, den jeder Mensch und besonders die Frau zur freien Verfügung haben sollte, um kreativ arbeiten zu können. Mit einer Text-Collage, mit projizierten Videobildern und ihrer Live-Stimme erzeugte Frau Steindorf einen medial facettenreichen und geistig vielschichtigen Reflexions-Raum. Angesichts der heutigen Mobilität und »räumlichen Verflüchtigung« lenkte sie die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie und wo der eigene Raum (noch) behauptet werden kann. In der Videosequenz unterstreicht sie die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes im Gegensatz zum geschriebenen: kaum notiert, verschwindet es sogleich unter Korrekturflüssigkeit.
Franziska Loh schlug der Gruppe eine meditative Übung mit dem Titel »Eine Reise« vor. Sie brachte damit einen weiteren »praktischen« Ansatz in den Workshop, der auch in Schulen, Therapieeinrichtungen und Selbsterfahrungsseminaren Anwendung findet. Über die angeleitete körperliche und geistige Entspannung soll ein ausgeglichener Seinszustand erreicht werden, basierend auf einem liebevollen Umgang mit sich selbst. Das Ziel der »Reise« liegt in der eigenen Person, es zu erreichen führt zur Wiederentdeckung verschütteter Kreativitäts-Potenziale. Mit ihrem Vorschlag befand sich Frau Loh im Einklang mit einer Forderung des Philosophen und Rektors der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, Peter Sloterdijk, der feststellte, dass die theoretische Auseinandersetzung mit der Metaphysik nicht ohne eigene praktische Erfahrung möglich sei.