Die Wahrheit des Klischees. Zu den Arbeiten Herbert Wentschers

»Wenn ich die Alpen sehe, muss ich immer lachen. Sie sehen tatsächlich genau wie auf der Postkarte aus.« (Herbert Wentscher)1

Unsere Realität ist, wie wir spätestens seit der Renaissance wissen, vor allem eine Frage der Wahrnehmung. Insofern baut unser Wirklichkeitserleben auf dem Paradigma auf, dass nichts unverbrüchlich objektiv gegeben ist, sondern alles erst durch den wahrnehmenden Blick gefiltert, seine spezifische Wahrheit und Aussagekraft erhält. Herbert Wentschers oben zitierter Satz bezieht sich auf diesen Zusammenhang, geht aber noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er die paradoxal anmutende Behauptung aufstellt, die Wirklichkeit sei nichts als eine Ableitung der von ihr entworfenen Bilder. Explizit verknüpft Wentscher diesen spielerisch inszenierten Betrachtungswechsel dabei mit der Debatte über Medialität und Mittelbarkeit unserer Welt, die integral zum Diskurs der Moderne gehört. Die dadurch entstandene Drift zwischen Welt und Bild sorgt zunehmend dafür, dass der einst fraglos konsekutive Zusammenhang zwischen Abbild und Abgebildetem immer mehr zerfasert. Der französische Philosoph Jean Beaudrillard hat dieses Zeichenhaftwerdung des Realen als einen »Hyperrealismus« bezeichnet, der jegliche Unterscheidungskriterien zwischen dem Realen und dem Imaginären aufhebt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage nach einer authentischen Grundlage unseres Realzusammenhangs immer schwerer zu beantworten: Je wahrer die Bilder werden, umso mehr emanzipieren sie sich von einer selbst zweifelhaft gewordenen Realität, der sie nicht mehr als Abbild, sondern als selbst autonom gewordenen Realität gegenüberstehen.

In diesem Sinne ist auch der Status des oben angesprochenen Postkartenmotivs zu begreifen. Seine behauptete Nobilitierung zum Wirklichkeitsparameter ist Ausdruck einer kollektiven Wahrnehmungsperspektive, der das naive Vertrauen in eine objektiv gegebene Realität in dem Maß abhandengekommen ist, in dem sie ihren Wirklichkeitsbegriff zunehmend aus dem Reich der vermittelten Bilder bezieht. Das bedeutet noch nicht, dass die Realität – sozusagen als Schwundstufe von selbstständig gewordenen Abbildungen – nun nicht mehr vorhanden wäre. Unstrittig ist feilich, dass, enorm verstärkt durch die jüngsten Entwicklungen in der Kommunikations- und Medientechnologie, die Ephemerisierung des Wirklichen, seine Perforierung mit immer perfekter werdenden Abbildungs- und Bildgenerierungstechniken, einen Grad erreicht hat, der es erstmals als zumindest denkbar erscheinen läßt, herkömmliche Illusionen durch Simulakren zu ersetzen, deren Künstlichkeit vom Betrachter nicht mehr verifiziert werden kann.

Herbert Wentschers Zeichnungen, Bilder und Videoarbeiten reflektieren diese proliferierenden Entwicklungstendenzen durch den Aufbau einer Bildwelt, die ganz auf Zeichenhaftigkeit setzt. Vor uns fächert sich ein Motivkosmos auf, der scheinbar an lapidarer Schlichtheit nicht zu überbieten ist: Hut, Auto, Schiff und Herz, Blume, Badeanzug oder Sessel auf die einfachste mögliche Form reduziert, mit Ölkreiden, Acryl oder Mischtechnik in einer seltsam schillernd durchscheinenden Mehrschichtigkeit gemalt. Auch die Videoarbeiten haben diesen Hang zu kindlich anmutender Vereinfachung. Die Videoskulptur »Video Ergo Summ« besteht aus einem Bienenkorb mit eingelassenem Monitor und zwei Antennen. Das Bienenlied, das daraus ertönt, ist von raffinierter Simplizität: »Am Himmel lacht die Sonne, wir summen voller Wonne. Das Bienenlied erklingt, wozu man dann das Tanzbein schwingt«. Auch zu Paris macht sich der Künstler so seine Gedanken: »Ob Montmartres Busenkuppeln locken oder wir im Bains-Douches rocken: Klischees gibts hier en masse – Paris, das ist schon was«. Schwer ist das Leben, heiter sei die Kunst. Bei Herbert Wentscher liegt ein rosiger Schein über allen Dingen. Es wichtelt und menschelt so unbeschwert, als wäre das Leben ein heiterer Abzählreim und wenn doch einmal Empfehlungen gegeben werden, dann aus dem gesammelten Schatz der Sprichwörter, Binsenwahrheiten und Allgemeinplätze, wie beispielsweise im Text zu der Videoskulptur »Das Wappen von Heidenheim«: «Wie du mir so ich dir, Haste was, biste was, Trautes Heim Glück allein« verkündet uns der »Heide von Heidenheim« und tritt dann nach dem markigen »Feierabend« ab. Im Sinne des oben Gesagten gibt es keinerlei Echtheit in all diesen Arbeiten. Die Referenzebene, auf die sich Wentschers Entwürfe beziehen, ist nicht die Realität, sondern die selbst schon zeichenhaften Komprimierungen, die wir von ihr entwerfen. Freilich, die solipsistische Hermetik, die sich in dieser Form der tautologischen Implosion von zeichenhafter Realität und zeichenhaft gezeichnetem Bild anzudeuten scheint, wird durch die formale Inszenierung nachhaltig unterlaufen.

Kennzeichen aller Bilder und Videoarbeiten Wentschers ist ihre strukturelle Ambivalenz zwischen Banalität und Bedeutung. Sie erfüllen den Tatbestand des Klischees ebenso sehr, wie sie ihn gleichzeitig unterlaufen. Ihr kindlich humorvolles Affirmationsspiel, in dem immer »Alles bestens« ist (Titel der Videoproduktion), ist keine reine Verstellung, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Als trittsicherer Grenzgänger vermeidet der in Oldenburg geborene Künstler stattdessen jede Eindeutigkeit. So sind die bonbonbunten Bildwerke, der Motivrepertoire deutlich die wirtschaftsoptimistischen 50er Jahre reflektiert, eben nicht als distanzierte, objektive Analyse und damit Abwehr kollektiver Trivial- und Banalvorstellungen zu werten, sondern als Versuch im partiell durchaus identifikatorischen Nachvollzug solcher banalen Sehnsüchte und Bilder deren gesellschaftlich identitätsstiftender Bedeutung nachzuspüren.

Die Gartenzwerge der Vidoeskulptur »Paiks Garten in Freiburg«, die Schwarzwaldmythen aus dem Videofilm »Der Faustische Traum« und das märchenromantische Burgmotiv in der Videoarbeit »Die Königskinder« haben so gesehen ein gemeinsames Fundament: Sie sind die Klischees, als die wir sie gewöhnlich sehen und verweisen gleichzeitig, in ihrer spezifischen Aufbereitung, auf die archetypische Dimension, die in ihnen schlummert.

Ganz besonders deutlich wird diese Verschaltung von Archetypos und seiner klischeehaften Trivialisierung an der Serie der be- und überzeichneten Postkartenarbeiten aus dem Jahre 1982. Vom Durchfahrt-verboten-Schild über das Michelin-Männchen, hin zur Zigarettenpackung, Hergés Comic-Held Tim, dem Eiffelturm, französischer Pharmaziereklame und weiblichen Aktdarstellungen (z. T. aus einem Spielkarten-Set mit Pin-up-Motiven) hat Wentscher hier ein buntes, mit Kugelschreiber, Bleistift und Wachsstiften gestricheltes Panoptikum, vorwiegend aus dem Konsum- und Werbebereich unserer Gesellschaft versammelt. Gerade die scheinbare Unbeholfenheit der Zeichnung, verbunden mit der isolierten Stellung des Motivs, das überdies häufig von einer lichtvollen Gloriole umstrahlt wird, sorgen dabei für die ambivalente Grundstimmung. Für sich alleine gesehen erscheint das in einem Lichtkranz getauchte Durchfahrt-verboten-Schild einerseits sehr viel lächerlicher und banaler als in Wirklichkeit, andererseits aber über seine Dekontextualisierung auch geradezu auratisch, fremd und unnahbar: Ein Zeichen aus einer anderen Welt

Keine Frage: der Balanceakt, den Wentscher dabei zwischen tautologischer Affirmation, Repräsentation und tiefenstruktureller Analyse zu bewältigen hat, ist heikel, denn er setzt eine Position voraus, die im selben Moment ganz bei sich und ihren Sehnsüchten ist und doch auch gleichermaßen ganz außerhalb. Ob ein »solches verführerisches Spiel, bei dem der Wissende mittels des gespielt Naiven herausfordert« überhaupt erlaubt sei, hatte denn auch Annelie Pohlen schon 1983 sich gefragt (nicht ohne die Frage im Folgenden implizit zu bejahren)1).

Dass Wentschers Projekt glückt und sich eben nicht auf die kühl durchkalkulierte Eindeutigkeit einer Kitsch und Klischee-Konzeptübung reduzieren lässt, liegt im wesentlichen an der Haltung, mit der sich der Künstler seinen Themen nähert. Die Lust an der Verführung, der Versuchung ist zumindest partiell immer auch die Lust des Künstlers selbst, und den Lockungen des Klischees erliegt er ebenso gerne wie wir. Der Unterschied ist nur, dass wir darüber nicht so gerne und schon gar nicht so offen reden, wie das Herbert Wentscher tut. Nicht die Überschreitung der Tabugrenze hin zum Kitsch ist es folglich, die diese Arbeit auszeichnet, sondern die Tatsache, dass diese Überschreitung gleichermaßen lustvoll und reflektiert erprobt wird. Hier, das spürt man, lässt sich einer ein auf den schillernden Untergrund der Trivialitäten und wahrt dabei doch immer auch soviel Abstand, dass er nie gänzlich auf seine Realisationen festzulegen ist. Dabei hilft ihm die ironische Grundanlage seiner Arbeiten, die jedes seiner Bilder zu einer elliptischen Konstruktion macht, in der das Undarstellbare eben deswegen anvisiert werden kann, weil es auf diese Weise nicht wirklich berührt, sondern allenfalls umkreist wird.

In den neuen Bildern aus den letzten vier Jahren erscheint der symbolhafte Zug, der in nahezu allen Arbeiten Wentschers spürbar ist, weiter verstärkt. Gleichzeitig ist die Vorliebe für Trivialzeichen aus Konsum- und Werbewelt deutlich abgeschwächt. Die Formen wirken abstrakter, geheimnisvoller, bisweilen mit einer nahezu phantastischen Aura ausgestattet. »Das Instrument« ist ein T-förmiges Brettchen, das uns aus Augenlöchern fragend anschaut, »Ledoux« ein nachtdunkles Bullauge in einer Mauer, aus der ein gefroren wirkender weißlicher Strom quillt, die »Kontinente« schließlich präsentieren sich als zwei im Lichtkranz schwebende undefinierbare (Gesteins)brocken. Die malerische Vergegenwärtigung dieser Ding-Welt ist hochsensibel: Ein vielschichtiges Geflecht aus schillernden blau-rot-grün und gelb-Tönen versetzt das ganze Bild in eine vibrierende Spannung, vermittelt ihm einerseits die fragil-ephermere Atmosphäre einer Fata Morgana und rückt es andererseits in die Nähe flimmernder Fernsehbilder.

Dieses Gefühl, dass diese Bilder sozusagen nur momenthaft auftauchen und jederzeit wieder in ihre flimmernden Tiefen verschwinden könnten, stellt sich bei vielen der neuen Arbeiten ein. Besonders deutlich wird es bei einem nackten Baggersee-Mädchen, das in einem irisierenden Farbsee steht, in den es vermutlich im nächsten Augenblick eintauchen und folglich verschwinden wird und bei der Arbeit »Lichtloch«, die unseren Blick durch einen rundkugelig sich verjüngenden Tunnel zu einem gleißend hellen Licht führt, in den das Bild als Bild absorbiert wird. »Eben saß da noch jemand« schließlich verweist nur noch im Titel auf die mögliche Anwesenheit des strukturell Abwesenden. Geblieben ist als Zeichen eine Sitzgelegenheit, auf der eben noch jemand gesessen haben könnte. Aber auch dieses Sitzmöbel wirkt schon so durchscheinend, als sei es nur eine virtuelle Realisation, erzeugt von unserem Blick, der immer noch dort eine Repräsentation sucht, wo es in Wirklichkeit schon längst keine mehr gibt.

Freiburg, im Juni 1994

Anmerkung:
1 Annelie Pohlen: Verführung und Ironie – Dreizehn Postkarten von Herbert Wentscher in : Kunstforum 58, 2/1983

Stephan Berg

Ausstellungskatalog Herbert Wentscher, Die Versuchung, Kunstverein Freiburg und Institut Français, Freiburg, Kunstverein Jena, Dortmunder Kunstverein, 1994–1995

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